Ein einsamer Araber sitzt seit 57 Jahren acht Stunden täglich auf seinem Stuhl im Tor des Garten Gethsemane und versucht, mit alten Filmen die Erinnerung an seine Frau aufrechtzuerhalten.
Am Fusse des Ölbergs liegt der Garten Gethsemane, in dem Jesus in der Nacht vor seiner Kreuzigung gebetet haben soll. Im Religionsunterricht hatte ich mir diesen Garten stets gross und weitläufig, mit dichten Büschen und vielen Bäumen vorgestellt – etwas enttäuscht war ich deshalb, als ich schliesslich vor ungefähr einem Jahr tatsächlich dort war und sich der Garten als sehr klein herausstellte. Dafür wachsen dort wunderschöne und mehrere Hundert Jahre alte Olivenbäume.
Und dann gibt es auch noch Farid. Als ich mit meinen Eltern zum ersten Mal dort war, bot er sich als Führer an und zeigte und erklärte uns alles; diese Woche nun, als ich zum Garten Gethsemane zurückkehrte, sass er wieder dort. Wobei «wieder» nicht richtig ist – «immer noch» sitzt er dort.
Hüter des Gartens seit 57 Jahren
Als ich ihn ansprach und ihn fragte, ob er sich womöglich an mich und meine Eltern erinnert, lachte er auf. «Mädchen», sagte er, «ich sitze hier seit 57 Jahren. Wo führte es hin, wenn ich mich an jeden Besucher erinnern würde?»
Heute ist Farid 73 Jahre alt und lebt in einem der arabischen Dörfer in Ostjerusalem – hinter der Mauer. Dies erwähnte er zwar, winkte auf mein Interesse hin jedoch sofort ab und sagte, dass er über alles mit mir sprechen wird, aber nicht über Politik:
«Mein ganzes Leben habe ich in Jerusalem verbracht, lebte unter englischer Herrschaft, unter jordanischer Herrschaft, nun hinter einer Mauer – aber was können meine jüdischen Freunde dort oben in der Altstadt dafür, meine christlichen Freunde? Sie bleiben ja doch die gleichen guten Menschen, weshalb verbittert sein wegen der ganzen Politik.»
Danach musste ich nichts mehr fragen, denn er erzählte während zwei Stunden ununterbrochen. Seit 57 Jahren also war sein Leben aufs Engste mit dem Garten Gethsemane verknüpft; zunächst war er einige Jahre lang Fotograf, danach stellte er sich als ortskundiger Führer für die zahlreichen Touristen zur Verfügung. Jeden Tag, von 8 bis 16 Uhr.
Früchte, drei Dosen Bier und Unmengen von Traurigkeit
«You know», damit begann Farid fast alle seine Sätze, «weisst du, seit meine Frau und mein ältester Sohn vor einigen Jahren gestorben sind, weiss ich nicht mehr, was ich machen soll. Ich habe keine Lust mehr, Freunde in der Altstadt zu besuchen, ins Kino zu gehen, etwas zu unternehmen.» Doch was macht er, wenn er um 16 Uhr Feierabend hat?
«Ich gehe jeden Tag durch die Altstadt bis zum Damaskustor, dort kaufe ich Früchte und drei Dosen Bier und nehme danach den Bus, um nach Hause zu gehen. Dort esse ich von den Früchten und von den Gaben, die mir meine Kinder manchmal vorbeibringen. Danach schaue ich Fernsehen und trinke mein Bier. Nachrichten schaue ich aber nie, das macht mich nur noch mehr traurig. Alte italienische Filme liebe ich sehr. Meine Frau mochte die auch.»
Auf so viel Traurigkeit, die all seine Sätze durchtränkten, wusste ich kaum etwas zu erwidern – aber letztendlich war dies auch gar nicht nötig, denn Farid liess mich nicht zu Wort kommen, sondern erzählte von seiner Frau und seinem Sohn, von ihrem Tod, von seinem Leben davor und danach.
Als ich mich schliesslich auf den Rückweg machte, nahm er mir das Versprechen ab, dass ich bald wiederkommen würde und liess mich nach positiver Antwort ziehen. Jedoch nicht, ohne mir einzuschärfen, dass 22 Jahre genau das richtige Alter ist, um zu heiraten, und dass ich das meinem Freund sagen soll. Ausserdem soll ich ihn das nächste Mal gleich mitbringen, damit er ihn begutachten und mir seine Meinung mitteilen kann.