«Figgi und Müli»

Sie ist das Feindbild von Architekten, Politikern und Journalisten: die Agglomeration.

Ästhetik spielt in der Agglomeration keine Rolle. (Bild: Christian Beutler)

Sie ist das Feindbild von Architekten, Politikern und Journalisten: die Agglomeration. Doch dort, wo 45 Prozent der Bevölkerung leben, entsteht die Schweiz von morgen.

Ja, die Schweiz des 21. Jahrhunderts wurde in Basel erfunden. Nicht an der Rheinschanze in den Büros von Herzog & deMeuron. Sondern draussen vor den Toren der Stadt: in Münchenstein, im Dachgeschoss eines unscheinbaren Wohnhauses. Der Mann, der die zündende Idee hatte, trägt schlohweisses Haar – und hat Jahrgang 1934. Es ist Paul Messmer, ehemaliger Direktor der Basellandschaft Transport AG (BLT). Mit seinem Einfall, im Baselbiet das Umweltschutzabonnement einzuführen, schrumpfte er 1984 den Landkanton de facto zur Stadt.

Eine Region, ein ÖV-Abo, ein Tarif. Was heute für Hunderttausende GA-Besitzer, für Millionen Pendler alltäglich ist, war damals eine Revolution: Bus und Bahn als Lebensadern einer Metropole über alle politischen Grenzen.

Die schweigende Mehrheit

Doch Paul Messmer blieb ausserhalb seiner Heimat ein Unbekannter wie viele der über drei Dutzend Menschen, die wir auf unserer Reise durch die Agglomerationen zwischen Lausanne und Frauenfeld und zwischen Basel und Glarus besuchten. Sie, die 45 Prozent der Schweizer Bevölkerung, gehören zu einer schweigenden Minderheit im Land. Man spricht zwar über sie, schimpft sie «Agglos», will heissen: «Bünzlis». Aber mit ihnen spricht niemand.

Glaubt man den Meinungsmachern, die hierzulande den Ton angeben, gibt es in der Schweiz nur die hippen Städte und die heilen Berge. Stadtpräsidenten und Heftli-Autoren preisen die urbanen Zentren als Motoren des Landes. Regionalpolitiker und das Schweizer Fernsehen bläuen uns ein: Das gute Leben findet man nur auf Bauernhöfen oder oberhalb von 700 Metern über Meer. Für alles, was dazwischen liegt, hat es weder am Bildschirm noch im Bundeshaus Platz.

Das wollten wir ändern. Wir gingen auf Reportage. Ein Jahr lang fuhren wir in einem Volvo durchs Land.

Ein Abbild der föderalistischen Prinzipien

Und siehe da, es offenbarte sich uns ein ganz anderes Bild. Die Agglomeration ist die Schweiz. In ihrer Vielfalt ist sie ein Abbild der föderalistischen und liberalen Prinzipien unseres Staates. Jenes Staates, in dem nicht nur jeder Mensch nach seiner Façon glücklich werden soll, sondern auch jede Gemeinde und jeder Kanton.

Das Jahr in der Agglomeration lehrte uns: Ästhetik macht die Menschen nicht glücklich.

Da findet die junge Serbin ihr Glück im Betonhochhaus, baut sich eine Schweizer Mittelstandsfamilie ihre «Burg» im Einfamilienhausquartier – oder pflügt ein Immobilieninvestor eine ganze Kleinstadt um. Ohne, dass es jemand merkt. Und ein ehemaliger Gemeindeammann meint, während er uns durch seinen Heimatort führt, der wie eine Baumusterzentrale aussieht: «Nein, ändern würde ich nichts.»

Ästhetik macht die Menschen nicht glücklich

Ja, das Jahr in der Agglomeration lehrte uns: Ästhetik macht die Menschen nicht glücklich. Gute Verkehrsverbindungen, Verfügbarkeit von Wohnungen – und das eigene Budget. Diese Faktoren entscheiden, wo sich jemand niederlässt. Wer in der Agglomeration wohnt, ist pragmatisch aus Prinzip. «Die Agglo ist ‹Figgi und Müli›. Man ist weg und doch nicht draussen», sagte uns ein Familienvater.

Trotzdem: Es gibt einen äusseren Faktor, der das Glück der Menschen beeinflusst. Das Grün. Je dichter die Menschen aufeinander leben, desto wichtiger wird ihnen ihr Garten, ihre Terrasse, ihr Balkon. Vor der Tür herrscht das zersiedelte Chaos. Immobilieninvestoren und Architekten bestimmen die Grundrisse und das Aussehen der Häuser und Wohnungen. Niemand wohnt genau so, wie er wirklich will. Aber wer einen Garten plant, eine Terrasse bepflanzt oder einen Balkon begrünt, der entwirft das ureigene Wunschbild seiner Welt. «Ja, wir verkaufen Emotionen», sagte uns ein Gärtnermeister.

Das Grün ist aber auch ein Fluchtpunkt. Wie wir auf unserer Reise erfuhren: die Schweizer Landschaft ist ein Haus mit drei Stöcken.

Die drei Stöcke der Schweiz

Im Parterre liegt die Gebrauchsschweiz. Mit grauer Architektur, hässlichen Gewerbegebieten, eingekeilt zwischen Strassen und Schienen. Doch wer hier wohnt, macht sich nichts daraus. Denn in der ersten Etage lockt die Naherholungsschweiz. Felder, Wälder und Wiesen. Alles in Gehdistanz zur eigenen Wohnung. Und steht man erst auf den sanften Hügeln, glitzert am Horizont die oberste Etage des Schweizer Hauses, die Ferienschweiz mit ihren schneebedeckten Bergen. Sie bedient unsere Sehnsucht nach Idyll und Wildnis.

Heute sind die Agglomerationen, diese geächteten Landstriche, Labor und Schrittmacher der modernen Schweiz.

Nur zwei Orte des Landes sehen heute noch genau gleich aus wie vor hundert Jahren: Bergregionen oberhalb von 1800 Metern und die Innenstädte.

Für Paul Messmer, den ÖV-Revolutionär aus Münchenstein, war es kein Zufall, dass in den 1980er-Jahren die BLT den Anstoss gab, ihr Tramnetz mit jenem der städtischen BVB zu vernetzen: «Wer vor den Toren haust, hat naturgemäss ein grosses Bedürfnis, schnell ins Zentrum zu kommen», sagte er uns. Und als wir bei unserern Recherchen auf Fotobände stiessen, die Aufnahmen der Schweiz von vor 100 Jahren zeigen, staunten wir nicht schlecht. Nur zwei Orte des Landes sehen heute noch genau gleich aus: Bergregionen oberhalb von 1800 Metern und die Innenstädte.

Die Schweiz wächst längst nicht mehr in den Städten Zürich, Basel oder Bern, sondern in den Weiten des Thurgaus, des Aargaus und im Freiburger Umland. Und die Experimente, die man hier wagt, sind radikaler. Die Durchmischung von Wohnen und Arbeiten ist mittlerweile höher als in den Innenstädten. Von dort haben sich Industrie und Logistik längst verabschiedet, geblieben sind Dienstleistungskonzerne, Einkaufsmeilen und Kulturzentren. In den Städten ist das urbane Ideal des Sowohl-als-auch einem Entweder-oder gewichen. Es droht die totale Verdörflichung. Seit die rot-grüne Mehrheiten nicht mehr gestalten, sondern lieber verwalten, ist nur noch erlaubt, was nicht stört. Wehe dem Wirt, der in Basel, Zürich oder Bern seinen Biergarten mit Plastikstühlen möbliert! Draussen in Münchenstein, Schlieren oder Köniz kümmert das keinen.

Neue Rollen?

Was heisst das nun? Werden einfach die Rollen neu verteilt? Hier die Innenstädte unter einer Käseglocke, dort die Agglomerationen, die unentwegt ins Grüne wachsen?

Das wäre fahrlässig. Denn der Boden in der Schweiz wird immer knapper. Auch in den Agglomerationen. Gefragt ist deshalb gegenseitiges Lernen. Die Agglomerationen, wo nach wie vor das Auto regiert, können den Städten abschauen, wie man klug verdichtet und Dorfkerne für Fussgänger plant. Umgekehrt müssen die Städte wieder liberaler und vielfältiger werden. Weigern sie sich weiterhin, mehr Wohnraum und mehr Arbeitsplätze in ihren Quartieren nahe den Zentren zuzulassen, fördern sie damit die Zersiedelung des Landes. Jene Zersiedelung, die sich die Schweiz nicht mehr leisten kann.

Ein Stück Zukunft

Gefordert sind aber auch Bund und Kantone. An ihnen ist es, beim Ausbau der Verkehrswege klare Prioritäten zu setzen. Nur so lässt sich das weitere Ausfransen der Siedlungen beschränken. Immer mehr Züge, immer mehr Tunnels, immer mehr Strassen: das hat keine Zukunft. Und sollen die Agglomerationen nicht immer weiter entfernt von den Kernstädten wachsen, braucht es eine eidgenössische «Unité de doctrine» bei Raumplanung und der Wirtschaftsförderung.

Basel ist schon einen Schritt weiter. Hier wird – leise zwar – über einen Zusammenschluss der beiden Verkehrsbetriebe BLT und BVB diskutiert, also über eine Fusion von modernem städtischen Biedermeier und hemdsärmliger Agglomeration. Vielleicht zeigt sich da im Kleinen ein Stück Schweiz der Zukunft.

«Daheim. Eine Reise in die Agglomeration»

«Ihr zerstört die Schweiz!», klagen Planer, Politiker, Journalisten und Architekten seit 60 Jahren. Ihr Feindbild ist die Agglomeration. Doch was hat dieses Zetermordio gebracht? Nichts. Von St. Margrethen bis Genf, von Basel bis Erstfeld, von Biasca bis Chiasso erstreckt sich heute ein einziger Siedlungsteppich – 45 Prozent der Schweizer Bevölkerung wohnen dort. Die beiden Journalisten Matthias Daum und Paul Schneeberger wollten wissen, wie diese Menschen leben. Sie gingen auf Reportage. Ein Jahr lang fuhren sie in einem Volvo durchs Land. Sie trafen Familien, die im zersiedelten Umland der Städte ihr Daheim gefunden haben. Im grossen Einfamilienhaus wie im Block. Sie sprachen mit Leuten, die mit ihren Träumen und Wünschen das Land prägen, die aber nie gefragt werden: Wie sieht eigentlich eure Schweiz aus? Entstanden ist ein Reportagebuch mit Fotografien von Christian Beutler, gestaltet und aufwendig illustriert von Charis Arnold.
Matthias Daum, Paul Schneeberger: Daheim. Eine Reise durch die Agglomeration; NZZ Libro 2013; 208 S., ca. Fr. 38,–

Artikelgeschichte

In der gedruckten Version dieses Artikels ist fälschlicherweise Philipp Loser als Autor angegeben. In der Online-Version sind die beiden richtigen Autoren des Textes angegeben.

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