«Höhenfeuer» war einer der Höhepunkte seines Schaffens. Jetzt bringt Fredi M. Murer mit «Liebe und Zufall» seinen letzten Film. Bei dessen Finanzierung und in Locarno hatte es der Altmeister nicht leicht. Warum nicht? Wir haben ihn in Zürich besucht.
Durch das Fenster seiner Wohnung sieht Zürich aus wie durch ein Fischauge. Am oberen Rand dehnt sich der Zürichberg. Im Zentrum prangt gewichtig die ETH. Unten verliert sich der Neumarkt mit unbedeutend kleinen Bürgersteigen.
Fredi Murer schaut seit dreissig Jahren in diese verzerrte Stadt hinaus. Hier, in seinem Büro, feilt er an seinen Film-Bildern. Manchmal zeichnet er auch einfach nur.
Ich treffe Fredi Murer vor der Premiere von «Liebe und Zufall». Hinter ihm liegt ein Pressemarathon. In der Tasche trägt er ein Manuskript für «ein Premieren-Redlein». Und vor ihm liegt «die Hölle»: «Wenn der Film jetzt dann gleich läuft, kann ich nichts mehr ändern. Jetzt bleibt alles so, egal, wie die Leute es finden.»
Der Magier seiner Kindertage
Auf die Magie angesprochen, die seine Filme durchzieht, lächelt er kurz, schelmisch, greift nach einem Zuckerstück und lässt es mit Zauberhand verschwinden. Magie? Die war sein frühester Kindheitswunsch. Er wollte ein Zauberer sein. Lange Jahre ist er es jetzt – auf seine Art. «Was da auf der Leinwand abläuft, ist nichts als projiziertes Licht. Auch wenn du weinst und lachst und dich fürchtest, bleibt, wenn du den Stecker ziehst, nichts als eine leere Wand.» Dann spricht er eine Magie an, die immer wieder als Motiv in seinen Filmen auftaucht: die unverbrüchliche Verbindung zu den anderen Generationen. «Wenn ich das Foto meines Grossvaters betrachte, ist mir, als schaue ich mir selber ins Gesicht.»
Er ist noch heute auf der Suche nach den Verbindungen der Menschen untereinander. «Ich habe meine Mutter dafür bewundert, dass sie so viel gelesen hat. Als ich selber lesen konnte, habe ich auf jedem Umschlag ihrer Bücher den Titel ‹Roman› gefunden und wollte dem Geheimnis meiner Mutter auf die Spur kommen. ‹Mama, liest du immer das gleiche Buch?›»
Nein, «Roman» heisse bloss, dass alle diese Bücher erfunden seien. «Ich war entsetzt! Wie konnte jemand bloss ein so dickes Buch lang lügen?!»
Andererseit entdeckte er als Kind ausgerechnet im Flunkern den Reiz des Magischen. Seinen Schulfreunden erzählte er gerne, er sei während des Krieges vom Roten Kreuz in Mulhouse zur Adoption freigegeben worden. «Es war meine Art, damit klarzukommen, dass ich mich nie zuhause fühlte.»
Man muss lernen, der Intuition zu vertrauen
Einer der Grossen des Schweizer Films will aber vieles nicht erklären müssen. So arbeitet er auch. «Ich habe gelernt, meinen Träumen mehr zu vertrauen als manchen Filmkennern. Intuition ist etwas, das man vielleicht schulen kann. Sicher kann man lernen, ihr zu trauen. Für die sieben Sekunden Vierwaldstättersee in ‹Liebe und Zufall› habe ich drei Tage wandern und einen Tag auf das richtige Licht warten müssen. Bis ich merkte, dass es mich an die ‹Toteninsel› von Böcklin erinnert.» Intuition kann aber für andere auch anstrengend sein: «Ich habe fast jeden Morgen den Schauspielern beim Schminken geänderte Texte zu lernen gegeben. Sie haben mich dafür nicht nur geliebt…»
Dabei liebt er die Schauspieler. Weil er auch alle seine Figuren liebt. Wer Murers Filme durchsucht, wird schwerlich einen rein «Bösen» finden. Schauspieler sollen ihre Figuren verteidigen, was immer sie auch der Welt antun. Wer nur alle fünf Jahre einen Film macht, begegnet Schauspielern mit besonderer Vorsicht: «Wir haben zwei Wochen geprobt. Wir haben die Figuren entwickelt, Töne belauscht, Szenen improvisiert. Das hat mir und allen viel Ruhe verschafft.»
(Bild: Betschart)
Nicht um die Welt gekommen und doch einen Schritt weiter
Murers Filme sind um die Welt gereist und er – blieb zu Hause. «Meine Mutter kam aus einer Hoteliersfamilie. Die fuhren nicht in die Welt hinaus. Die Welt kam zu ihnen.» Er habe das Gefühl, er schulde es der Stadt, hier geblieben zu sein. «Ich verdanke es Zürich, dass ich ein Filmer sein darf.»
«Wer wie ich in der Schweiz bleibt und Filme macht, darf allerdings höchstens alle fünf Jahre seinen Beruf ausüben. Den Rest der Zeit verbringt man mit Fundraising und damit, Gremien mit umgearbeiteten Drehbüchern zu füttern, Produzenten zu finden, Stoffe zu ordnen.»
Es ist einer der wenigen Augenblicke, da die Augenbrauen sich etwas über die Lider senken. Warum keine Premiere an den Filmfestspielen in Locarno?
«Locarno muss sich profilieren. Locarno hat ein neues Team. Da ist so ein stiller Film für die Piazza zu klassisch.» Murer will sich nicht weiter äussern, wenn auch die Enttäuschung zu erkennen ist. «Festivals wollen sich als jung profilieren, was immer jung heissen soll. Eines heisst es gewiss: Seit das Kunstgeschichts-Studium nicht mehr so hipp ist, füllen sich die Vorlesungen der Filmwissenschaftler. Wir haben pro Regisseur bald zehn Wissenschaftler, arbeitslose Akademiker, die in Workshops lernen ‹How to write a screenplay›. Ich kenne kaum mehr Leute, die keine Filme machen. Filmen ist ein Volkssport. Ich orte auch hier einen Generationenschnitt.»
«Ich bin ein Mensch aus der analogen Zeit» (Bild: Betschart)
Ein Junggebliebener redet vom Alterswerk
«Ich habe einmal Studenten gefragt, von welchem Film sie träumen. Zehn von zwölf wollten Filme machen, die etwa 30 Millionen Franken kosten. In einem Land, in dem der erfolgreichste Film vielleicht 3 Millionen kosten darf. Das bedeutet selbst für alterserfahrene Leute wie Lyssy, Dindo, Imhoof oder mich: Geld ist ein Stilmittel. Film ist nicht ein Weg, um berühmt zu werden, sondern um über die Welt zu diskutieren. Dennoch stellen sich alle an, hinter frischen Akademikern, die als Einziges das Problem kennen, kein Problem zu haben, das aber wenigstens besser begründen können.
Aber gerade das Begründenmüssen will man im Laufe eines Künstlerlebens endlich verlernen: Ich erwarte ja keine Vorschusslorbeeren für meine Intuition. Aber etwas weniger Neid gegenüber meiner Erfahrung. Ich wurde einmal von einem Gremium gefragt: Kannst du deinen Film in einem Satz zusammenfassen? Wenn ich das könnte, wäre ich Werbetexter geworden. Klar war ich enttäuscht in Locarno. Aber ich wollte mit so einem stillen Film nicht in den Wettbewerb.»
Auch wenn er sich als kreativer Mensch als «unpensionierbar» bezeichnet, spürt man, wie sehr er es sich gewünscht hätte, für ein paar Jahre unbeschwert arbeiten zu können und nicht für jeden Film wieder wie ein Anfänger vor wechselnden Gremien deren wechselnde «Workshop-Anforderungen» erfüllen zu müssen. «Ich bin ganz schlecht in Kompromissen.»
Aus: Fredi M. Murer als Zeichner, Edition Stephan Witschi
Murer liebt Schauspieler dafür, dass sie Böse lieb spielen
Er selber war immer ein fleissiger Theatergänger. Er entdeckt immer wieder Schauspielergesichter für den Film. Zum Beispiel Ueli Bichsel, den knorrigen «Lufthund», der seit Jahrzehnten zur legendären «Zirkus Federlos»-Truppe gehört und mit Silvana Gargiulo ein Theaterduo bildet. Sybille Brunner, die er bereits vor ihrem Erfolg mit «Rosie» engagierte. Oder Werner Rehm, das Gründungsmitglied der «Berliner Schaubühne», der mit achtzig Jahren noch immer auf der Bühne steht. Bis in die kleinen Rollen fährt Murer die Ernte seiner Theatergänge ein: Als Buchhändler bringt Peter Jecklin das Buch «Liebe und Zufall» ins Spiel. Als konkursiter Geschäftspartner Karl bietet Ueli Jäggi eine abgründige Genugtuung.
Der lange Weg durch die Institutionen
Dabei hat «Liebe und Zufall» eine qualvolle Entstehungsgeschichte: Erst sollte der Film «Der lange Abgang» heissen. Doch er fand bei den Fördergremien keinen Gefallen. Auch umgeschrieben erntete er als «Der afrikanische Gärtner» nur Naserümpfen. Als «Das Quartett» fand er schon Teilapplaus. «Kuckuck» wurde noch knapp abgelehnt. «Da sitzt du plötzlich vor einem weiteren Gremium, das bemängelt, dass spätestens auf Seite 26 der Plotpoint sein müsse.»
Das klingt für einen Autorenfilmer wie die Aufforderung an einen Jazzer, er möge einen Ton ausserhalb der Tonart lieber weglassen. «Diese Gremien sehen in den Drehbüchern den Film. Aber ich bin Autor. Ich prüfe mit dem Drehbuch meine Geschichte. Ich prüfe beim Drehen des Films mein Drehbuch. Ich prüfe beim Schnitt des Films das Drehmaterial. Das Drehbuch ist nicht einmal die Spitze des Eisbergs.»
Endlich begann er mit der Fassung «Jetzt oder nie» die Dreharbeiten. Jetzt läuft der Film unter dem Titel «Liebe und Zufall» in den Kinos.
Eine unerfüllte Liebesgeschichte aus «Liebe und Zufall»
«Ich erzähle die Geschichte eines Figurenquartetts. Der alternde Schauspieler findet eine Bühnenpartnerin. Der italienischen Haushälterin wird ihr Mädchentraum erfüllt, als sie in einem Theaterstück mitspielen kann. Der Architekt darf seine grösste Sünde aus der Welt sprengen. Die Mutter darf den Sohn kennenlernen, den sie als Jugendliche zur Adoption freigeben musste.»
Dabei ist es der Geschichte nur förderlich, dass Murer seinen Plot in den Auslassungen seiner Mutter fand. Das ungelebte Leben fand immer wieder seine Auswucherungen in Murers Filmen. Mit «Höhenfeuer» fing er seine familiäre Enge ein und entliess die Kinder in eine schreckliche Freiheit. In der «Grauzone» öffnete er Zürichs Jugend den Blick hinter die Kulissenstadt ihrer Eltern. In «Vollmond» liess er die Kinder streiken. In «Vitus» erfüllter er sich den Kindheitswunsch, etwas Besonderes zu sein.
Murer spielt, immer auf der Suche nach der eigenen Person, mit dem Kind in ihm, mit dessen eigenen Poesie. Er kann sich nicht verstellen. Er zeichnet, formuliert, fängt Bilder von sich ein, die anderen erlauben, in ihm sich selbst zu sehen.
Aus: Fredi M. Murer als Zeichner, Edition Stephan Witschi
Das letzte Haus der Einsamkeit zu zweit
Wie in «Höhenfeuer» so endet auch der letzte Film Murers in einem Haus in der Einsamkeit. Die unversöhnten Generationen haben in der Liebe keine Erfüllung gefunden. In «Höhenfeuer» sind in dem Haus in den Alpen vor dem kerzenbeleuchteten Elterngrab hinter den vertränten Lichtfenstern Kindergesichter zu sehen. In «Liebe und Zufall» ist es das Klingeln eines Telefons, das ein uraltes Liebespaar vereint. Eine Mutter besucht im Schein eines Feurzeuges den Vater, den ihr Kind nie hatte. Die Generationen versöhnen sich nicht. Sie erleben nur ihr ungelebtes Leben – wie neu verfilmt.
«Eigentlich habe ich nichts erlebt», schreibt Fredi Murers Mutter als ersten Satz ihrer nachgelassenen Aufzeichnungen nieder. Dann folgen vier (!) Ordner handschriftliche Beschreibungen des Nichterlebten, mehrere Hundert Seiten voller Schicksalsschläge und Glückswendungen.
«Eigentlich habe ich nichts erlebt», schreibt auch Elise Altmann in «Liebe und Zufall», als Widmung in das schmale Büchlein, das sie ihrem Mann Paul schenkt. So ist «Liebe und Zufall» durchzogen von autobiografischen Andeutungen, als wolle Murer tatsächlich in seinem letzten Werk seine Geheimnisse mit uns allen teilen. Gleichzeitig holt er eine ganze Reihe von Erinnerungen seiner Mutter in seinen Film, zum Teil uns verborgen, als wolle er seine komplexe Beziehung zur Mutter im Film erhalten.
Ist es denn sein letzter Film? Ja. Doch. Das habe Bergman auch gesagt, fügt Murer schmunzelnd hinzu – mindesten fünf Mal. Nach jedem weiteren Film. Dann schweift sein Blick über ein Büchergestell voller Skizzen, Strichzeichnungen, Bildern, Traumtagebüchern – Stoff für mindestens zehn weitere Filme.
Die Premiere ist die Hölle – jetzt muss alles so bleiben
«So. Jetzt gehts los. Zum ersten Mal ein voller Saal!» Dennoch ist Murer die Nervosität nicht anzumerken, als sich die Fernsehkameras von «Zehnvorzehn» auf ihn richten: Er möge doch mal vorbeigehen. Einer der ganz Grossen des Schweizer Films geht vorbei, tut dabei so normal, wie er ist. «Don’t act! Just be!», sagt er selber gerne den Schauspielern vor seiner Kamera. Wie ein kleines Kind huscht er in seine eigene Premiere.
Elise (Sybille Brunner) und Paul (Werner Rehm) haben fünzig Jahre zusammen verbracht. Die Zufälle (und ein wenig die Liebe) des Lebens haben sie hinter sich. Jetzt wollen sie die letzte Etappe gemeinsam mit Haushälterin (Silvana Gargiulo) in der Villa am Zürichberg verbringen. Doch dann holen die Zufälle das Paar wieder ein: Elise vernimmt den Ruf einer alten Leidenschaft. Paul steigert sich in einen gerechten Alterszorn. Und als Haushälterin Angela der Lockung ihrer Jugend-Berufung auf die Bühne folgt, gerät das Trio ganz aus dem Gleichgewicht. Enrique (Ueli Bichsel), der Angela zum Theater holt, weiss noch nicht, dass er damit vier Leben ganz neue Vorzeichen gibt.
Was arm an Leben und reich an Erinnerung beginnt, nimmt einen überraschenden Lauf. Fredi M. Murer verknüpft liebevoll Anekdoten aus seinem Leben und dem seiner Eltern zu einem stillen, überraschenden Fragebogen über den letzten Lebensabschnitt. Murer gewährt Zufall und Glücksfall weiten Raum. Er überlässt dem wunderbaren Schauspielerensemble das Feld für jede Altersweisheit. Mit reduziertem Tempo, dem nötigen Eigensinn und dem unwiderstehlichen Sog seiner Geschichte setzt er nicht zuletzt jener Generation ein Denkmal, die jeden Zufall vermeiden wollte. Und ein wenig auch die Liebe.