Völkerrecht geht vor Landesrecht: Daran soll sich laut Bundesrat auch nichts ändern. Andernfalls würde die Glaubwürdigkeit der Schweiz als verlässliche Vertragspartnerin leiden.
Völkerrecht geht Landesrecht vor, auch wenn sich das Volk nicht dazu äussern konnte. Zu diesem Schluss kommt der Bundesrat in einem Bericht, der die zur Abstufung völkerrechtlicher Verträge nach ihrer demokratischen Legitimation beschreibt.
Er hat die Frage im Auftrag des Parlaments untersucht. Aufgrund eines Postulats der FDP hatte er unter anderem die Frage zu beantworten, ob wie im innerstaatlichen Recht auch für das Völkerrecht eine Hierarchie und damit eine klare Konfliktregel je nach demokratischer Legitimation gelten könnte.
Zuoberst würden demnach Verfassung und jene völkerrechtlichen Verträge stehen, für die das Referendum obligatorisch ist. Danach kämen Bundesgesetze und Völkerrecht, die dem fakultativem Referendum unterstehen und schliesslich jene Erlasse, über die nicht abgestimmt werden kann.
Gefährdete Glaubwürdigkeit
Diese Vorrangregel verspreche Transparenz und einfache Handhabbarkeit. Doch könnten diese Versprechen in der Praxis nur teilweise eingelöst werden, schreibt der Bundesrat in seinem am Freitag veröffentlichten Bericht. Die Schweiz sei unabhängig von einer innerstaatlichen Vorrangregel an ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen gebunden.
Das Problem werde dadurch nicht gelöst, sondern lediglich auf die Ebene des Völkerrechts verlagert, weil mehr Konflikte zugunsten des Landesrechts gelöst würden. Darunter könnte die Glaubwürdigkeit der Schweiz als verlässliche Vertragspartnerin leiden, warnt der Bundesrat.
Hinzu kommt gemäss dem Bericht, dass die Vorrangregel in vielen Fällen gar keine Anwendung finden würde – etwa wenn es um widersprechende Normen geht, die demokratisch gleichermassen legitimiert sind. Darum will der Bundesrat die Idee der Hierarchisierung des Völkerrechts nicht weiter verfolgen.
Auch ein obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit verfassungsmässigem Charakter lehnt er ab. Es sei im ungeschriebenen Verfassungsrecht bereits heute anerkannt, dass solche Verträge dem obligatorischen Referendum unterstellt werden müssten. Es gebe daher keinen Handlungsbedarf.
Bewusster Bruch nötig
Verbesserungspotenzial sieht der Bundesrat aber durchaus. Seiner Meinung nach müsste das zuständige Beschlussorgan – in der Regel das Parlament – vorab Rechenschaft darüber ablegen, ob es mit dem Erlass eines Gesetzes oder der Genehmigung eines Vertrags zu einem Konflikt zwischen Völker- und Landesrecht kommt.
Das Bundesgericht anerkennt den Vorrang von Landesrecht gegenüber Völkerrecht nämlich nur dann, wenn die Kollision vom Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen wurde. Dafür muss die Frage aber bei der Beratung thematisiert worden sein. Dabei könnte auch gleich geregelt werden, wie die Unvereinbarkeit beseitigt werden soll, heisst es im Bericht.
Das Problem der Unvereinbarkeit von Volksinitiativen und Völkerrecht lässt sich auf diesem Weg allerdings nicht lösen. Der Bundesrat verweist in dem Zusammenhang auf die verschiedenen hängigen Vorstösse und die zu erwartende Diskussion.
Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Regierung mit dem Thema befasst. Letzten November beispielsweise schloss sie in einem Bericht eine Kündigung der EMRK aus, auch wenn sich damit verschiedene Normenkonflikte lösen liessen. Die EMRK sei ein zentraler Baustein der europäischen Grundwertegemeinschaft, zudem würde deren Kündigung die Schweiz aussenpolitisch isolieren, schrieb der Bundesrat.
Diskussion wegen Initiativen
Konflikte zwischen Landes- und Völkerrecht beschäftigen die Politik seit Jahren. Auslöser der Diskussion waren verschieden Volksbegehren, etwa die Verwahrungs- oder die Minarettinitiative. Um das Problem zu entschärfen, schlug der Bundesrat vor, Initiativen schon vor der Unterschriftensammlung auf ihre Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht zu überprüfen. Zudem sollten die Ungültigkeitsgründe ausgeweitet werden.
Die Vorschläge fielen in der Vernehmlassung durch. Der Bundesrat entschied daher, sie nicht weiter zu verfolgen. Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats will das Thema aber weiter verfolgen. Zuerst wollte sie jedoch den nun vorliegenden Bericht abwarten.
Nicht abgewartet hat die SVP. Im März hat sie die «Selbstbestimmungsinitiative» lanciert, die den Vorrang von Landesrecht gegenüber Völkerrecht in der Verfassung verankern soll. Einzige Ausnahme wäre das zwingende Völkerrecht. Dass das zur Kündigung der EMRK führen könnte, nimmt die SVP in Kauf.