Fundamentalismus ist auch die Quittung für unsere Doppelmoral

Zum IS gehen Jugendliche, die am Rand der Gesellschaft stehen. Sie suchen Sündenböcke, die sie vom IS erhalten. Wir leisten unseren Beitrag dazu – dabei müssten wir nur Haltung zeigen. Es sei an der Zeit, dass wir uns für die echten Fragen interessierten, sagt der Islamexperte Olivier Roy mit Blick auf die Ursachen des religiösen […]

Wer nicht hinschaut, sieht keine Probleme.

Zum IS gehen Jugendliche, die am Rand der Gesellschaft stehen. Sie suchen Sündenböcke, die sie vom IS erhalten. Wir leisten unseren Beitrag dazu – dabei müssten wir nur Haltung zeigen.

Es sei an der Zeit, dass wir uns für die echten Fragen interessierten, sagt der Islamexperte Olivier Roy mit Blick auf die Ursachen des religiösen Fundamentalismus («Das Magazin» 12/2015). In der Debatte über den Islam werden diese «echten Fragen» offenbar nicht aufgeworfen, denn diese Debatte läuft ja dank Kampagnen- und Billigjournalismus auf Hochtouren. Wovon lenkt die Islamdebatte ab?

Die Psychologie lehrt, dass Fragen, denen man ausweicht, etwas mit einem selbst zu tun haben. Bei Dschihadisten stand zu Beginn das Gefühl, von der Gesellschaft nicht den eigenen Erwartungen entsprechend behandelt zu werden, so der Islamexperte Reinhard Schulze (BZ, 10.10.2014). In den gesichtslosen Agglomerationen sind laut Peter M. Wettler namentlich muslimische Jugendliche arbeitslos, diese empfänden ihre Arbeitslosigkeit als einen Gewaltakt (bzBasel, 08.10.2014).

«In Europa wird eine Jugend produziert, die nichts mehr zu verlieren hat. Es gibt ein Randsegment von Jugendlichen, die davon überzeugt sind, dass sie vom System zurückgestossen werden», so Roy weiter im «Magazin». Laut Farhad Khosrokhavar fühlten sich Muslime oft als Bürger zweiter Klasse behandelt. Ein Individuum, das nur Ausgrenzung und verinnerlichte Nichtswürdigkeit kenne, laufe Gefahr, seine Wut und Rachegelüste in totalisierender Form umzuschreiben (NZZ, 16.03.2015).

Einig sind sich die Experten, dass der Islam nicht ursächlich für Extremismus ist. Zum Verständnis des heutigen Terrorismus sei die Erklärungskraft des Korans gleich null, so Roy. Schlagender Beweis sind die vielen Konvertiten, die in keiner islamischen Tradition stehen. Zum IS gehen Outcasts, die für ihre Minderwertigkeitsgefühle Sündenböcke suchen, die sie vom IS auch erhalten.

Zum IS gehen Outcasts, die für ihre Minderwertigkeitsgefühle Sündenböcke suchen, die sie vom IS erhalten.

Letzten Donnerstag war in der NZZ zu lesen: «Für den Bülacher Stadtrat ist klar: Minderjährige, deren Eltern in den letzten fünf Jahren Sozialhilfe bezogen haben, erhalten grundsätzlich keinen Schweizer Pass.» Ich behaupte, genau auf diese Weise erzeugt unsere Gesellschaft Extremismus: durch diese ganz normale, alltägliche «Praxis sozialer Kälte» (Marc Spescha), die wir selbst gar nicht mehr wahrnehmen.

Die Zurückgestossenen nehmen diese Kälte aber wahr, und wir wären gut beraten, uns gelegentlich zu fragen:

  • Was empfinden Jugendliche, die von der Mehrheitsgesellschaft in willkürlicher Weise dafür in Sippenhaft genommen werden, dass ihre Eltern nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden konnten?
  • Welche Gefühle entwickeln Jugendliche gegenüber einer Gesellschaft, die es am Abstimmungssonntag nicht interessiert, dass sie jenen Heranwachsenden in willkürlicher Weise gleiche Rechte verwehrt, sich aber damit brüstet, die beste Demokratie der Welt zu sein?
  • Welche Selbstverleugnung müssen diese Jugendlichen mit Migrationshintergrund an den Tag legen – Herr und Frau Biedermann sprechen dann von «Integration» –, um keinen Hass auf eine Mehrheitsgesellschaft zu entwickeln, die ihr Identitätsproblem dadurch zu lösen sucht, dass sie Menschen mit Migrationshintergrund in sozialrassistischer Weise ausgrenzt?

Wer glaubt, in einem System zu leben, in dem jeder seines Glückes eigener Schmied ist (und damit auch niemandem ausser sich selbst die Verantwortung für erlittene Nachteile zuschieben kann), macht sich blind für die gesellschaftliche Mitverursachung von Extremismus.

Von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzten Jugendlichen bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie resignieren oder sie revoltieren. Der IS ist die perverse Form einer an sich gesunden Revolte. Er verdankt seine Existenz auch dem Fehlen echter Befreiungsbewegungen in den Herkunftsländern seiner Rekruten.

Der Zwillingsbruder des Pegida-Wutbürgers ist der religiöse Fanatiker.

Hass aufgrund empfundener Minderwertigkeit und das daraus resultierende Treten nach unten sind Wesensmerkmale sowohl des Pegida-Wutbürgers (egal welcher Provenienz) als auch seines Zwillingsbruders, des religiösen Fanatikers. Hier wie dort brauchen Zukurzgekommene (oder solche, die meinen, dass sie zu kurz gekommen sind) noch Schwächere, in denen sie Nichtswürdigkeit hassen können, um die selbst erlittene nicht wahrnehmen zu müssen.

Hier wie dort liefern Machthungrige – hier Politiker, die eine urwüchsige Rechtschaffenheit vorheucheln, dort Schwerverbrecher – den Rachsüchtigen Sündenböcke, die sie ungestraft erniedrigen dürfen, um ihr Selbstwertgefühl zu retten. Hier wie dort geht es um Machtgewinn durch Bedienung des Ressentiments, und hier wie dort finden Machthungrige Frustrierte – nicht Dumme! –, die lieber das Denken fahren und sich instrumentalisieren lassen, als auf Rache (also auf Abwehr der Empfindung ihrer Nichtswürdigkeit) zu verzichten.

Die «echten Fragen», die uns interessieren müssten, lauten:

  • Welchen Beitrag leisten wir selbst zum Erstarken des Extremismus?
  • Und was steht in unserer politischen Verantwortung, um dem Extremismus möglichst den Nährboden zu entziehen?

Die scheinbar harmlose und ganz normale Beschwörung einer phantasierten, reinen Schweizer Identität und exklusiven Zugehörigkeit zur Gesellschaft, die Ausgrenzung zur notwendigen Kehrseite hat, lässt solche Fragen kaum aufkommen. Sie stellen sich aber trotzdem.

Wenn wir Mitgliedern unserer Gesellschaft aufgrund von Umständen oder Merkmalen (Hautfarbe, Herkunft etc.), für die sie selbst nichts können, gleiche Rechte verwehren, verraten wir unsere eigenen «westlichen» Werte. Wir selbst spüren diesen Verrat kaum, die Ausgegrenzten nehmen ihn aber als Heuchelei wahr. Resultat ist ein Hass auf «den Westen», der seine Versprechen nicht einlöst – oder Anpassung.

Das Mitmachen beim IS ist auch nur eine feige Flucht vor dem Kampf für Gleichberechtigung.

Beides, Verteufelung des Westens ebenso wie Anpassung sind Formen der Selbstverleugnung, auf welchen der Selbsthass gedeiht, der sich schliesslich gegen Schwächere richtet. Das Mitmachen beim IS ist auch nur eine feige Flucht vor dem Kampf für Gleichberechtigung, der keine Schwächeren braucht, in denen man empfundene Nichtswürdigkeit hassen und bekämpfen kann – ganz gleich, wodurch diese Empfindung hervorgerufen wurde: ob durch ein «Nein» des übermächtigen Vaters (auch: Zurückweisung durch Abwesenheit), ob durch das hier thematisierte «Nein» einer übermächtigen Gesellschaft, die ihre Versprechen nicht einlöst, oder durch ein «Nein» der übermächtigen Natur, sprich: einer (ontologischen) Erfahrung von Unverfügbarkeit, welche hinzunehmen wäre.

Die dritte, gesunde Antwort auf empfundene Nichtswürdigkeit wäre der soeben erwähnte Kampf für gleiche Rechte und gleiche Chancen. Dieser Kampf für Emanzipation und gegen Diskriminierung wurzelt in der Einsicht radikaler Gleichheit aller Menschen vor jenem dritten «Nein» der Natur (Kontingenzerfahrung), einer Erfahrung des «Sich-nicht-selbst-Habens» (Transzendenzerfahrung), einer «ursprünglichen Verlusterfahrung» (psychologisch), also der umfassendsten Empfindung von «Nichtswürdigkeit».

Aus dieser Einsicht radikaler Gleichheit aller Menschen vor «Gott» (Name ist Schall und Rauch) resultiert ein «Nein» zur menschengemachten Erniedrigung von Menschen, ein «Nein» zur Rache für jene ursprüngliche Verlusterfahrung in Sündenböcken. Dieses «Nein» zur Unterdrückung von Menschen ist eine Aufgabe von uns allen.

Das «Nein» zur Unterdrückung von Menschen ist eine Aufgabe von uns allen.

Haltung zeigt, wer den Finger auch auf die Integrationsverweigerung der Mehrheitsgesellschaft legt. Rund einem Viertel der hier lebenden Menschen – der ständigen «ausländischen» Wohnbevölkerung – werden demokratische Mitspracherechte verwehrt. Schweizer ohne roten Pass finden nicht so leicht eine Lehrstelle wie Schweizer mit rotem Pass.

Schweizer ohne roten Pass können ausgewiesen werden – etwa, weil sie in eine Schlägerei geraten sind –, während dieses Damoklesschwert nicht über Schweizern mit rotem Pass hängt, die ebenfalls in eine Schlägerei geraten können. Diese Ungleichbehandlung interessiert den «echten» Schweizer nicht, weil sie ihn scheinbar nicht betrifft. Die Quittung für dieses Desinteresse erhalten wir auf Umwegen.

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Im Speaker’s Corner publiziert die TagesWoche ausgewählte Texte und Bilder von Community-Mitgliedern. Vorschläge gerne an community@tageswoche.ch.

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