Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall Dogu Perinçek wird in der Schweiz mit Enttäuschung aufgenommen. Es könnte eine zurückhaltendere Anwendung der Antirassismusstrafnorm oder gar eine Gesetzesrevision nach sich ziehen.
Sarkis Shahinian, Ehrenpräsident der Gesellschaft Schweiz-Armenien (GSA), kritisierte das Urteil aus Strassburg als «oberflächlich». Das Gericht habe nicht berücksichtigt, dass Dogu Perinçek mit dem Vorsatz in die Schweiz gekommen sei, den Völkermord zu leugnen. Nun sei er zu einem «Märtyrer der Meinungsäusserungsfreiheit» geworden.
Den Völkermord zu leugnen sei wie die Opfer von damals ein zweites Mal zu töten, sagte der Genfer Nationalrat Ueli Leuenberger (Grüne), Co-Präsident der Parlamentarische Gruppe, in Bern vor den Medien.
Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus zeigte sich auf Anfrage der Nachrichtenagentur sda enttäuscht. Sie betonte dabei, die Antirassismusstrafnorm werde durch das Urteil nicht infrage gestellt.
Rechtliche Folgen noch nicht absehbar
Die rechtlichen Folgen des Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sind noch nicht absehbar, wie das Bundesamt für Justiz (BJ) festhielt. Zunächst müsse das Urteil analysiert werden.
In sechs Monaten müsse die Schweiz dem Ministerkomitee des Europarats mitteilen, wie sie das Urteil umzusetzen gedenke. Die Schweiz müsse die Konsequenzen im Fall Perinçek «beseitigen» und auch Massnahmen ergreifen, um gleichartigen Verletzungen der Meinungsäusserungsfreiheit vorzubeugen.
Das Bundesamt betonte dabei, dass Entschädigungsforderungen vom türkischen Nationalisten Dogu Perinçek vom EGMR abgelehnt worden seien. Die Feststellung der Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit ist laut dem Gerichtshof eine ausreichende Wiedergutmachung.
Wegen Rassendiskriminierung verurteilt
Perinçek hatte 2005 in der Schweiz den Völkermord an den Armeniern öffentlich als «internationale Lüge» bezeichnet. Die waadtländische Justiz und das Bundesgericht hatten ihn danach wegen Rassendiskriminierung gemäss der Antirassismusstrafnorm verurteilt.
Anders sieht es das EGMR: Dessen Grosse Kammer bestätigte am Donnerstag das Urteil der Vorinstanz. Demnach hat die Schweiz mit der Verurteilung des türkischen Ultranationalisten wegen Rassendiskriminierung die Meinungsäusserungsfreiheit verletzt.
Die Grosse Kammer des EGMR hält fest, sie sei sich der Bedeutung der Ereignisse von 1915 bewusst und der Tragweite, welche diese für die Armenier hätten. Das Osmanische Reich hatte damals die Deportation und Ermordung von Armeniern angeordnet und durchgeführt.
Über sensible Fragen diskutieren
Wie bereits die Vorinstanz hält die Grosse Kammer fest, dass es in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig sei, Perinçek wegen seiner Äusserungen zu verurteilen, um die Rechte der Armenier schützen zu können.
In einer demokratischen Gesellschaft müsse man über sensible Fragen debattieren können, auch wenn dies nicht allen genehm sei, hielt die Grosse Kammer fest. Zur juristischen Qualifikation des Genozids äusserte sich das Gericht nicht. (Urteils-Nummer 27510/08)