Der Schweizer Mittelstand hat so viel Geld zur Verfügung wie noch nie. Die Diskussion um die strapazierte Mittelschicht ist trotzdem nicht aus der Luft gegriffen. Die Reichen und Armen konnten beim Einkommen mehr zulegen als die Mittelschicht, wie eine Publikation von Avenir Suisse zeigt.
Die Schweiz ist eine Nation der Mittelschicht. Rund 60 bis 80 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner gehören dieser Bevölkerungsschicht an, sie sind also nicht besonders reich, leiden aber auch nicht unter grösseren finanziellen Sorgen.
In Zahlen ausgedrückt, verdienen sie als kinderloses Paar zwischen 67’000 und 150’000 Franken brutto. Paare mit Kindern gehören zum Mittelstand, wenn sie pro Jahr brutto zwischen 94’000 und 210’000 Franken nach Hause bringen.
In den letzten Jahren haben die Reallöhne dieser Bevölkerungsschicht im Durchschnitt um 6 bis 8 Prozent zugelegt. Damit steht die Schweizer Mittelschicht besser da als jene in den meisten anderen Ländern, nicht zuletzt in den Nachbarländern.
Verunsicherung und Abstiegsängste
Dennoch sind grosse Teile der Mittelschicht nicht zufrieden. Verunsicherung, Abstiegsängste und das Gefühl, nicht vorwärts zu kommen, sind weit verbreitet. Die Publikation der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse, die am Freitag veröffentlicht wurde, zeigt nun, dass diese Gefühle auf Fakten beruhen.
Wie die Zahlen zeigen, ist der Mittelstand in den vergangenen zwanzig Jahren tatsächlich zurückgefallen, während die Reichen davonziehen und die Unterschicht immer stärker aufholt. Die Löhne der Reichen haben um bis zu 15 Prozent zugelegt, jene der Unterschicht um 10 Prozent. Beide Werte liegen deutlich über den 6 bis 8 Prozent, die der Mittelstand dazugewinnen konnte.
Der Fahrstuhl nach oben ist also ins Stocken geraten, wie es Gerhard Schwarz, Direktor von Avenir Suisse, vor den Medien ausdrückte. Die Aufstiegsperspektiven für den heutigen Mittelstand seien deutlich erschwert. Als Hauptgrund nennt Avenir Suisse „das Dickicht an Umverteilungsmassnahmen“.
Einkommensabhängige Krippentarife als Problem
Ein Beispiel seien einkommensabhängige Krippentarife, welche die Mittelstandsfamilien, in denen beide Elternteile arbeiten, enorm belasteten. Dies schaffe ein massives Anreizproblem. Es hemme die Teilnahme der Frau am Arbeitsmarkt und behindere so den Aufstieg.
Auch andere staatliche Leistungen wie etwa die Prämienverbilligung oder die Subventionierung von Wohnraum werden von Avenir Suisse kritisiert. Nach Bezahlung all dieser Abgaben und Transfers würden sich viele Angehörige des Mittelstandes an der Grenze zur Unterschicht wiederfinden.
Um den Mittelstand zu stärken, schlägt die Denkfabrik vor, das Umverteilungs-Dickicht zu entwirren und die einkommensabhängige Sozialpolitik zurückzufahren. Stattdessen solle zu einer „weitgehenden Benutzerfinanzierung“ übergegangen werden. Sprich: Wer etwas will, soll es selber bezahlen und so die Allgemeinheit entlasten.
Die auf den ersten Blick einfachste Lösung – die Reichen stärker zu besteuern – hält Avenir Suisse nicht für sinnvoll. Vermögen sei mobil, die Reichen würden die Schweiz sicher schnell verlassen. „Französische Verhältnisse“, wo diese Entwicklung gegenwärtig im Gang ist, seien aber nicht wünschenswert.