Die Gruppe E ist auf dem Papier eine Zweiklassengesellschaft. Belgien ist einer der grossen Turnierfavoriten, Italien verweist auf ein glänzendes Palmarès. Irland und Schweden sind Aussenseiter.
Die Belgier wissen selbst nicht so genau, wie gut sie jetzt sind. Oder sie wollen es nicht zugeben. Vor dem Testspiel gegen die Schweiz sitzt Stürmer Eden Hazard in der Lobby des Olympischen Museums in Lausanne und sagt: «Belgien als Top-Favorit? Nein! Da sehe ich eher Deutschland, Frankreich oder Spanien!» Doch im nächsten Satz schiebt er nach: «Aber wenn wir unsere Potenzial abrufen, können wir mit den Besten mithalten.» Sein Trainer Marc Wilmots ruft offiziell auch nicht den EM-Titel als Ziel aus: «Wir können für uns in Anspruch nehmen, einen aussergewöhnlich guten Job gemacht zu haben, wenn wir die EM-Halbfinals erreichen.»
Trotzdem: Die Halbfinals sind das Minimum, das von Belgien erwartet wird. Weniger wäre eine Enttäuschung, denn seit Marc Wilmots das Traineramt vor vier Jahren übernommen hat, sind die Belgier mit grossen Sprüngen nach vorne gekommen. Von Rang 54 des FIFA-Rankings kletterten sie bis im letzten November an die Spitze hinauf. Akteure wie Torhüter Thibaut Courtois (Chelsea), Mittelfeldspieler Axel Witsel (Zenit St. Petersburg) oder die Stürmer Kevin de Bruyne (Manchester City) und Eden Hazard (Chelsea) spielen bei europäischen Top-Klubs eine Hauptrolle.
Die Gruppenphase wird für diese Mannschaft kein Problem sein. Danach gilt auch für Belgien: Es wird die Tagesform entscheiden. Zudem wird sich zeigen, wie die immer noch junge Truppe mit dem Druck der hohen Erwartungen umzugehen weiss. Vor zwei Jahren reiste sie auch mit hohen Zielen an die WM, blieb in ihren Leistungen aber unter den Erwartungen und scheiterte schliesslich nach einem enttäuschenden Auftritt in den Viertelfinals am späteren Finalisten Argentinien. «Diese Niederlage sehe ich für das damals zweitjüngste Team als Chance, wichtige Erkenntnisse gemacht zu haben», so Wilmots.
Im Normalfall ist in der Gruppe E nur Italien in der Lage, Belgien in Bedrängnis zu bringen. Doch der vierfache Weltmeister gehört für einmal wohl nicht einmal zum erweiterten Kreis der Favoriten. Das Startspiel gegen die Belgier wird für die Azzurri so etwas wie ein Elchtest, der aufzeigen wird, was für sie unter Umständen möglich ist. Beobachter schätzen, dass Italien diesmal von der Klasse her so weit hinter den Besten zurückliegt wie noch nie an einer Endrunde. Das wohl einzige Plus der Italiener ist ihre taktische Vielseitigkeit. Fast alle Spieler können ohne Probleme zwischen verschiedenen Positionen wechseln. Die Mannschaft ändert rasend schnell zwischen 3-5-2 und 4-4-2, zwischen 4-3-3 und 3-4-3.
Trotzdem: das italienische Team ist unausgewogen besetzt: Es verfügt über einen guten Torhüter (Gigi Buffon) und über eine starke (Juventus-)Abwehr (Leonardo Bonucci, Giorgio Chiellini, Andrea Barzagli). Es hat ein paar unberechenbare Flügel (Lorenzo Insigne, Antonio Candreva, Stephan El Shaarawy), dafür fehlen ihm im zentralen Mittelfeld die beiden Strategen (Claudio Marchisio, Marco Verratti). Zudem ist kein Stürmer in Sicht, dem man zutraut, ein Spiel in der K.o.-Phase im Alleingang zu entscheiden. Wie weit die Italiener von ihrer gloriosen Vergangenheit entfernt sind, beweist ein Blick auf die Rückennummern: Die legendäre Nummer 10, die in den letzten 20 Jahren auf dem Rücken von Spielern wie Roberto Baggio, Alessandro del Piero oder Francesco Totti klebte, schmückt nun das Trikot des eher rustikalen Thiago Motta.
Irland (FIFA-Ranking 33) und Schweden (35) sind die krassen Aussenseiter. Aufgrund ihrer Klassierung im FIFA-Ranking sind sie die Nummern 21 und 23 unter den EM-Teilnehmern. Für beide gilt das Ziel: Mit einem Sieg im Startspiel gegen den anderen Aussenseiter in die Achtelfinals vorstossen. Schweden verfügt mit Zlatan Ibrahimovic immerhin über einen Superstar, der in einem solchen Spiel den Unterschied ausmachen kann.
Ansonsten durchläuft Schweden personell gerade eine nicht ungefährliche Zwischenphase. Neben dem 34-jährigen Ibrahimovic haben auch Torhüter Andreas Isaksson (34), GC-Mittelfeldspieler Kim Källström (33) und Stürmer Marcus Berg (30) die Zukunft nicht mehr vor sich. Und die U21-Europameister des letzten Jahren sind noch nicht so weit, dass sie in der A-Nationalmannschaft Verantwortung übernehmen können. Zwar stehen fünf von ihnen im EM-Aufgebot, doch dürfte bloss Mittelfeldspieler Oscar Lewicki von Malmö einen Stammplatz haben.
Die Iren vertrauen wie die Schweden auf ein schnörkelloses 4-4-2 und auf die Physis. Das Team ist robust, die Spieler sind aus ihrem Alltag im Premier-League-Mittelfeld oder in der 2. Division von England gewohnt, einen hohen Rhythmus zu gehen. Mehr als ein für alle Gegner unangenehmer Widersacher zu sein, ist für Irland zwar nicht drin. Doch seit der Nordire Martin O’Neill das Team trainiert, ist zumindest ein Aufschwung unübersehbar. Unter Vorgänger Giovanni Trapattoni verlor Irland in der WM-Qualifikation 2014 gegen Deutschland 1:6 und 0:3. Zwei Jahre später mit O’Neill gab es gegen den Weltmeister in der Ausscheidung zur EM ein 1:1 und ein 1:0.