In Bern hat am Montag der Berufungsprozess gegen den selbsternannten „Heiler“ begonnen. Dem 55-Jährigen wird vorgeworfen, 16 Personen vorsätzlich HI-Viren injiziert zu haben. Der erstinstanzlich verurteilte Mann bestritt auch vor Obergericht die Taten vehement.
Er schwöre „vor Gott und der heiligen Schrift“, die ihm zur Last gelegten Taten nicht begangen zu haben, sagte der Angeschuldigte im Schlusswort, das ihm zustand. Er werde zu Unrecht als „Monster“ hingestellt.
Der Musiklehrer, der sich als Heiler sah, hatte gegen das Urteil des Regionalgerichts Bern-Mittelland vom Frühling 2013 Berufung eingelegt, die Staatsanwaltschaft zog nach. Die erste Instanz hatte den „Heiler“ in einem Indizienprozess der schweren Körperverletzung und des Verbreitens menschlicher Krankheiten schuldig gesprochen. Das Gericht sprach eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren und 9 Monaten aus.
Verteidiger will Freispruch
Vor Obergericht nun beantragte der Verteidiger jedoch den Freispruch seines Mandanten, nach dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“. Dass der Mann die ihm vorgeworfenen Taten begangen habe, sei nicht erwiesen.
Der Verteidiger kritisierte das erstinstanzliche Verfahren wegen mangelhafter Gutachten und widersprüchlicher Beweiswürdigung.
Aufhorchen liess ein Eventualantrag des Verteidigers, den Angeklagten allenfalls wegen leichter Körperverletzung schuldig zu sprechen – was eine geringere Strafe zur Folge hätte. Der Verteidiger verwies dabei auf einen Bundesgerichtsentscheid von 2013, wonach eine Ansteckung mit HIV dank dem medizinischen Fortschritt nicht mehr automatisch lebensgefährlich sei.
Staatsanwalt will strengere Strafe
Der Staatsanwalt hingegen will die erstinstanzliche Strafe für den „Heiler“ noch verschärfen. Er plädierte am Montag für eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren. Die Indizien reichten aus, um den Mann schuldig zu sprechen.
Er habe 16 Personen zwischen 2001 und 2005 wissentlich über Akupunkturnadeln mit dem HI-Virus angesteckt. Zu diesem Zweck habe er einem Musikschüler, der Virenträger sei, kontaminiertes Blut abgezapft. Ein Laborgutachten habe schlüssig gezeigt, dass die HI-Viren bei den 16 Infizierten eng verwandt seien und aus der gleichen Quelle stammten.
Die Taten seien trotz geänderter Rechtssprechung des Bundesgerichts in allen 16 Fällen als schwere Körperverletzung zu werten, befand der Staatsanwalt. Eine HIV-Infektion sei heute zwar medikamentös zu behandeln, aber immer noch nicht heilbar.
Die 16 Infizierten hätten mit massiven gesundheitlichen Einschränkungen und starken Nebenwirkungen der Medikamente zu kämpfen. Sie seien teils arbeitsunfähig, ihre Lebenserwartung habe sich verkürzt.
Der Angeschuldigte habe „zielstrebig, skrupellos und hinterhältig“ gehandelt, sagte der Staatsanwalt. Er habe seinen Opfern hinterrücks Spritzen verabreicht und ihr Vertrauen missbraucht. Zudem zeige er weder Einsicht noch Reue.
„Streben nach Macht und Kontrolle“
So bleibe auch das Motiv im Dunkeln, stellte der Staatsanwalt weiter fest. Anzunehmen sei, dass der Mann aus „egoistischem Streben nach Macht und Kontrolle“ gehandelt habe. Er habe als „mystische Person“ gelten wollen, die die Schicksalsfäden in der Hand halte.
Auch die Anwälte der mutmasslichen Opfer als Privatkläger sahen keinen Grund, am Schuldspruch der Vorinstanz zu rütteln. Sie verwiesen auf deren Einschätzung, wonach die Beweislage erdrückend und für einen Indizienprozess von seltener Klarheit sei.
Der Angeschuldigte habe den infizierten Menschen grosses Leid zugefügt und gewusst, dass er „ein Sterben auf Raten“ verursachen würde, so der Tenor der Plädoyers.
Urteil folgt am Freitag
Die Verhandlungen konnten am Montag abgeschlossen werden. Das Obergericht gibt sein Urteil am Freitagvormittag bekannt.