Henning Mankell ist tot. Als Übersetzer hat Hansjörg Betschart seine Dramen ins Deutsche übertragen. Er schildert seine Begegnungen mit dem vielseitigen schwedischen Autor – ein persönlicher Abschied.
Am dem kalten Wintertag im Jahr 2014, da er die Diagnose Krebs erhielt, fand Henning Mankell erst einmal keine Worte. «Eva und ich warteten auf ein Taxi. Wir sagten nicht viel. Wir sagten eigentlich gar nichts. Aber ich sah, wie ein Mädchen auf einem Schneehaufen hüpfte. Als das Taxi losfuhr, hüpfte das Kind immer noch.» So beschreibt er den Augenblick in seinem Buch «Treibsand».
Jetzt ist der Regisseur, Romancier und Verfasser der Kriminalroman-Reihe um Kommissar Wallander im Alter von 67 Jahren in Göteborg gestorben. Sein letztes Buch «Treibsand», («Kvicksand») – Ende September 2015 ist es erst auf Deutsch erschienen – schrieb er bereits unter dem Eindruck der Krankheit, die ihn traf «wie die Aschewolke die Bewohner von Pompeji».
Die erste Begegnung
An einem Berliner Theatertreffen in den Achtzigerjahren traf ich den jungen Regisseur Henning M. als Gast aus Schweden zum ersten Mal. Ich war damals selber Gast aus der Schweiz. Mankell war ungeduldig, fiel in den Diskussionen zu den Aufführungen durch seine moralischen Fragestellungen auf – und durch eine kolossale politische Unruhe: Er versuchte Ungerechtigkeiten nicht nur in Worte zu fassen. Er suchte nach möglichen Handlungen, sie zu ändern. Und den Menschen, die sie verantworteten.
Damals war er Dramaturg in einem kleinen schwedischen Theater in Borås. Während die deutschen Theater-Kollegen in Diskussionen von Peter Brooks «Theater-Safari» schwärmten, nahm Mankell die Sache selber in die Hand. Er fuhr nach Afrika, um zu arbeiten. Er inszenierte in Mocambique. «Die Räuber», von Friedrich Schiller. Er arbeitete mit den jungen Schauspielern. Er hielt ein Theater am Leben.
Damals war Mankell als Dramatiker und Autor von Jugendbüchern selbst in Schweden noch kaum bekannt. Seine frühen Bücher verrieten aber bereits den grossen Autor – mit seinen persönlichsten Werken. Er selber bezeichnete sein Kinderbuch «Ein Kater schwarz wie die Nacht» als «vielleicht mein bedeutendster Roman». In den Fragestellungen der Kinder, die er darin schildert, sind bereits die Entwürfe des späteren Moralisten zu erkennen. In «Die Reise ans Ende der Welt» finden sich jene Motive wieder, die Mankell bis ans Lebensende begleiteten.
Die zweite Begegnung
Meine zweite Begegnung mit Mankell fand als sein Übersetzer statt. Mit dem Stück «Antilopen» begann eine Zusammenarbeit an seinen Dramen. In der Zwischenzeit war aus dem jungen Dramaturgen bereits ein Weltautor geworden: Auch wenn die «Wallander»-Kriminalromane nur etwa einen Viertel seines Werkes ausmachen – vierzig Millionen verkaufte Bücher machten ihn rasch zu einem der vielbeschäftigten Autoren der Welt: Rückfragen wegen Textstellen beantwortete er präzise, knapp. «Ich kann nicht deutsch sprechen, aber zuhören…», war seine geliebte Entgegnung, wenn ihm etwas auf Deutsch auffiel.
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts erhob Mankell seine Stimme gerne auch als Bürger, weltweit hörbar. Mit einem Hilfsboot mit Nahrungsmitteln machte er auf die prekäre Versorgungssituation im Gaza-Streifen aufmerksam. Mit Christoph Schlingensief, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verband, unterstützte er die Oper in Burkina Faso. Mankell wurde nicht müde, für Menschen einzustehen, die andere als Opfer übersahen.
Jahr um Jahr fand er neue Kraft auf dem schwarzen Kontinent und war ein Bewunderer seiner Kultur: «Die Menschen dort haben uns etwas zu sagen. Zum Beispiel sagen sie uns etwas Wichtiges für unsere Gespräche: Wir haben nur einen Mund. Aber wir haben zwei Ohren.»
Die dritte Begegnung
Die dritte Begnung – mit dem Dramatiker Mankell – führte uns in Zürich an Büchners Grab zusammen, vor dem Theater Rigiblick. Kurz vor der Première seines Stückes «Miles – oder die Pendeluhr aus Montreux» waren wir beide nervös. Mit dem Blick über die Stadt schweifend murmelte er eine Losung des jungen Dichters, der so früh gestorben war: «Friede den Hütten und…». Der Rest ging in einem Lächeln unter und wurde bereits zu einem Plan. «Ich werde ein Stück über ihn schreiben…»
Kurze Zeit später ereilte Mankell eine neue Gewissheit, jene des Todes. Ein Autounfall mit anschliessenden Genickschmerzen brachte es an den Tag: Mankell schrieb kurz über die Krebsdiagnose ein Tagebuch in der «Göteborgs Posten». Aber rasch empfand er seine Krankheit nicht als Ende. Sein neuestes Buch «Treibsand» fasst in bestechender Form zusammen, was den unruhigen Geist in seinen letzten Monaten umtrieb.
Mit dem Blick auf seine noch verbleibende Wegstrecke beschäftigte er sich nur am Rand mit seiner Krankheit. Lieber begann er – vor dem Ende seiner Zeit – andere Zeitbegriffe zu sichten. In «Treibsand» gibt er eine Sammlung ganz persönlicher Begebenheiten wieder, die ihn an den Rand des eigenen Lebens führten.
Er beschreibt Episoden aus seinem eigenen Geschichtenschatz. Zum Beispiel jene, da er ein schwedisches Atommüll-Endlager besichtigen wollte. Man verweigerte ihm den Zutritt, aber er bestand darauf – eine typische Handlungsweise des grossen Moralisten: Er wollte in jenem Ort stehen, in dem 100’000 Jahre lang alles unverändert sicher sein sollte. Er wollte diesen Ort sehen, wo nach 100’000 Jahren vielleicht ein Mensch vor der Türe steht und sich fragt, was sich darin wohl befindet.
Ebenso neugierig hörte er in einer anderen Episode dem Schweizer Arzt in Maputo zu, der ihm das menschliche Herz beschreibt: «Der Herzmuskel beginnt etwa am 28. Tag, sich zu bewegen, und am 31. Tag schlägt er. Als wir uns trennten, fragte ich ihn, wie das menschliche Herz in einer Million Jahre aussehen werde … oder in 100’000 Jahren? In 100’000 Jahren?, sagte er. Das ist für eine Veränderung in der Entwicklung des Herzens eine kurze Zeit.»
Am Sonntag Abend hat Henning Mankell in der Klinik noch eine seiner Geschichten erzählt. In der Nacht hat sein Herz aufgehört zu schlagen.