Durch das Fenster zum Hof gibts nicht in jeder Sommernacht einen Mord zu beobachten. Fesselnd ist der alltägliche Wahnsinn hinter den Vorhängen trotzdem. Leser Marcus Tschudin war neugierig.
Ältere Semester – zu denen ich als Pensionierter zwangsläufig gehöre – mögen sich an den von Meisterregisseur Alfred Hitchcock gedrehten und 1954 uraufgeführten Thriller mit dem Titel «Fenster zum Hof» erinnern: James Stewart spielt darin einen Photojournalisten, der sich durch einen Unfall ein eingegipstes Bein eingehandelt hat und infolgedessen gezwungen ist, seine rollstuhlgebundene Rekonvaleszenz in seinem Apartment im New Yorker Greenwich Village abzusitzen.
Aus purer Langeweile beginnt er, vom Fenster seines Schlafzimmers aus seine Nachbarn zu beobachten und auszuspionieren, die auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs in einem Wohnblock leben. Dabei macht er aufschlussreiche, mysteriöse, pikante und beunruhigende Entdeckungen und wird Zeuge allerlei häuslicher Dramen, bis sich bei ihm eines Tages der Verdacht erhärtet, der bedrohlich wirkende Kerl in einer der observierten Wohnungen habe seine nörgelnde, bettlägerige Ehefrau umgebracht.
Und warum erzähle ich Ihnen das alles? Nun, da trete ich doch kürzlich in einer lauen Sommernacht auf den Balkon hinaus, um etwas Luft zu schöpfen. Und fühle mich unversehens in James Stewarts Situation katapultiert. Denn als ich zu den erleuchteten Fenstern des Blocks gegenüber blicke, springen mir mehrere Szenen helvetischen Alltagslebens ins Auge.
Seltsame Gestalten
Da ist zum Beispiel der junge, sportliche Typ. Während er sich in seinem Wohnzimmer auf einem Hometrainer abstrampelt, wirft sein Körper grotesk tanzende Schatten an die Wand. Was treibt diesen jungen Mann an?
Ein paar Minuten später erscheint auf der Terrasse gleich daneben ein rüstiger Rentner in Unterleibchen und Hosenträgern. Eine Zigarre zwischen Daumen und Zeigefinger haltend beugt er sich übers Geländer, um die Lage im Quartier einzuschätzen und einen Trottoirparkierer mit einem vernichtenden Kopfschütteln abzustrafen. Was denkt er?
In mehreren Stuben flimmern die Glotzen. Durch geöffnete Fenster wehen Musikfetzen, Werbespots und Bruchstücke von Dialogen herüber. In einer dunklen Küche im dritten Stock öffnet ein Durstiger in Khakishorts die Kühlschranktür; fahles Licht beleuchtet kurz seine Hand, die eine Bierflasche umklammert. Wer ist er?
In einem weiteren Apartment sitzt ein Paar auf einem orangen Sofa. Sie redet erregt auf ihn ein. Er, glatzköpfig und beleibt, starrt geradeaus, steht plötzlich auf, winkt genervt ab und verschwindet. Seine Frau gähnt nun hemmungslos und beginnt in einer Zeitschrift zu blättern. Worüber haben sie gestritten?
Was weiss man schon?
Mich beschleicht auf einmal das ungute Gefühl, ein übler Voyeur zu sein. Weil aber die vor mir ablaufenden Fenster- und Balkonfarcen weit unterhaltsamer sind als das aktuelle Fernsehprogramm, kann ich mich vorerst nicht losreissen und spiele noch ein wenig James Stewart.
Der Zigarrenraucher im Unterleibchen steht noch immer auf seinem Posten. Hin und wieder leuchtet in der Finsternis die Glut seiner Zigarre auf. Der Schattentänzer auf dem Hometrainer ist nach wie vor am Strampeln. Irgendwo rasselt ein Rolladen herunter. Aus einer Haustür tritt eine Dame, die mit ihrem Scotch Terrier Gassi geht. Wie heisst sie?
Wie wenig wir doch voneinander wissen, sinniere ich. Kurz nach elf verlasse ich meinen Ausguck. Übrigens: Der glatzköpfige, beleibte Typ auf dem orangen Sofa, Hitchcocks unheimlichem Lars Thorwald nicht unähnlich, hat seine nörgelnde Frau nicht umgebracht. Ich habe sie heute gegen Mittag im Morgenrock auf dem Balkon gesehen. Sie war damit beschäftigt, ihre Geranien zu giessen.