So sehr ihn das späte Out im Achtelfinal gegen Argentinien belastet, Ottmar Hitzfeld verlässt die Fussballbühne erhobenen Hauptes.
Wohl selten zuvor war der klassische Winner-Typ stolzer auf eine bittere Niederlage. Erst das Gegentor von Angel di Maria in der vorletzten Minute der Verlängerung, dann die wilde Antwort der Schweizer: der Pfostenkopfball Dzemailis, Benaglios Fallrückzieher im gegnerischen Strafraum, Shaqiris letzter Freistoss an der Strafraumgrenze. «In den letzten drei Minuten habe ich nochmals alles erlebt, was einem während eines ganzen Trainerlebens passieren kann», fasste Ottmar Hitzfeld die letzten 180 Sekunden seiner 31-jährigen Karriere.
Und auch im letzten Moment seiner Karriere verhielt sich der Trainer-Maestro wie ein Gentleman: «So ist Fussball, darum lieben wir den Fussball. Ich gratuliere Argentinien zur Viertelfinal-Qualifikation.» Hitzfeld lamentierte nicht, er akzeptierte das Ergebnis, das bittere Out, das abrupte Ende seiner Ära: «Ich bin stolz auf meine Laufbahn, in der ich auch viel vom Glück begünstigt wurde.» Das letzte Engagement für den SFV sei ihm eine grosse Ehre gewesen.
Als Hitzfeld in den ersten Minuten nach dem unerhört bitteren Knock-out wie in Trance über den Platz spazierte, kamen bei ihm Gefühle auf wie 1999 im Final der Champions League: «Ich erlebte so etwas schon einmal gegen Manchester United, als wir innerhalb weniger Minuten alles verloren haben. Das war ähnlich heute.»
Er habe den Rasen in erster Linie betreten, um den Spielern zu danken: «Sie haben heute etwas Grossartiges geleistet – nicht für sich allein, sondern für das ganze Land.» Die Genugtuung sei grösser als die Enttäuschung, so kurz vor der Ziellinie abgefangen worden zu sein. Er übermittelte seiner schwer gezeichneten Mannschaft eine Botschaft des Trosts: «Die Schweiz hat weltweit viele Sympathien gewinnen können. Das kann uns stolz machen.»
Einer der grossen WM-Favoriten hatte in der Tat schwer zu leiden. Die Schweizer rollten der «Albiceleste» während keiner Sekunde den roten Teppich aus. Als die Energie nach einer nahezu perfekten ersten Hälfte schwanden, war die SFV-Auswahl taktisch und leidenschaftlich genug, den zweifachen Weltmeister an den Rand der Verzweiflung zu drängen.
Lionel Messi, lange ohne den geringsten Einfluss, am Ende wegen einer einzigen genialen Aktion gleichwohl der «Man of the Match», gestand später ein, mit erheblichen Problemen gekämpft zu haben: «Das ganze Spiel war eine Leidensgeschichte. Wir waren nervös, weil wir lange kein Tor geschossen haben.» Das Penaltyschiessen hätten sie unbedingt vermeiden wollen. Es tue aber gut zu wissen, «dass wir solche schwierige Momente überstehen können.»
Während 99 Prozent der Partie neutralisierten die Schweizer den vierfachen Weltfussballer, während einer Bruchteilsekunde entriss er sich ihrer Umklammerung. Hitzfelds Fazit ist nicht neu, aber natürlich absolut zutreffend: «Er kann dem Spiel von einer Sekunde auf die andere eine Wende geben.» Messis Moment und Di Marias Tor werden ihm immer in Erinnerung bleiben – auch wegen der «gewaltigen Dimension», so kurz vor dem Penaltyschiessen ausgeschieden zu sein.
Sein argentinischer Amtskollege Alejandro Sabella beglückwünschte seine Equipe zum Vorstoss unter die Top 8. Er sprach von einem der «aufregendsten Spiele» seines Lebens. Sie hätten den Druck, 40 Millionen Argentinier zu vertreten, schon gespürt: «Aber wir haben nie das Gleichgewicht verloren.» Die Verzweiflung, unbedingt einen Weg ins Ziel zu finden, hätte sie trotz «harter und guter» Gegenwehr der Schweizer nicht fehlgeleitet: «Wir haben verdientermassen gewonnen.»
Hitzfeld rang nicht nur der Niederlage wegen mit den Emotionen. Am Tag vor seinem grossen Spiel in São Paulo war der Fussball für ihn plötzlich in den Hintergrund gerückt – Trauer verdrängte die WM-Euphorie. 24 Stunden vor dem letzten Highlight seiner Trainer-Karriere hatte Hitzfeld vom Tod seines Bruders Winfried erfahren, der in Basel an Leukämie gestorben war.
Der Nationalcoach verliess das Camp seiner Equipe nicht, bat aber alle explizit, seine Privatsphäre zu respektieren. Er blieb gefasst, vor und während des Spiels. Erst nach dem Schlusspfiff hatte er Tränen in den Augen. Äussern mochte er sich zum persönlichen Schmerz nicht. Die Worte zum sportlichen Drama genügten.