Huren, Schmuck und Fernando Torres

Mehrere Jahre lang hat Philine Erni während der Uhren- und Schmuckmesse in einem Hotel gearbeitet. Was sie dort erlebt hat, hat sie für unseren «Speakers Corner» in einem Text niedergeschrieben. Sechs Uhr achtundzwanzig ist zu früh. Viel zu früh. Wer in aller Welt braucht um diese Uhrzeit eine Hotelbar. Die weitangereisten Geschäftsleute mit Jetlag? Vielleicht. […]

Schein und Schein: An der Uhren- und Schmuckmesse glitzerts vor und hinter den Fassaden.

Mehrere Jahre lang hat Philine Erni während der Uhren- und Schmuckmesse in einem Hotel gearbeitet. Was sie dort erlebt hat, hat sie für unseren «Speakers Corner» in einem Text niedergeschrieben.

Sechs Uhr achtundzwanzig ist zu früh. Viel zu früh. Wer in aller Welt braucht um diese Uhrzeit eine Hotelbar. Die weitangereisten Geschäftsleute mit Jetlag? Vielleicht. Nach der Spätschicht gestern durfte ich, weil ich spontan für die Frühschicht eingesprungen bin, freundlicherweise in einem der zahlreichen leerstehenden Zimmer des Hotels übernachten. Wie jedes Jahr wurden weit im Voraus ganze Etagen von berühmt-berüchtigten multinationalen Unternehmen geblockt und dann im letzten Moment wieder storniert. Wahrscheinlich hätte der gesamte FC Chelsea bei uns übernachten können, aber die angetrunkenen Fans, Hooligans und Torres-Groupies wären sicherheitstechnisch ein Debakel geworden.

Im Speakers Corner veröffentlicht die TagesWoche Texte, die von Leserinnen und Lesern verfasst wurden.

Der vorliegende Text von Philine Erni ist halb fiktiv, halb Satire, beruht jedoch auf direkt gemachten Erfahrungen der Autorin, die mehrere Jahre als temporäre Aushilfe an der Basler
Schmuckmesse gearbeitet und so einen Blick hinter die glitzernde Fassade erhalten hat.

Ich bekam das Zimmer zum üblichen Angestelltentarif. Ansonsten gibts die Tage unter 700 Franken pro Nacht noch nicht mal das kleine Kämmerchen neben dem Liftschacht. Für Abramowitsch und jene Konzerne, die teilweise im zweistelligen Millionenbereich in ihre Messestände investieren, sind solche Preise beziehungsweise Stornogebühren wohl leicht zu verkraften. Es sind ja schliesslich die lukrativsten Tage der Uhren- und Schmuckbranche.

Der Nachtportier wurde eben abgelöst, kramt hinter dem Rezeptions-PC noch eine leere Dose Redbull hervor und verabschiedet sich im Vorbeigehen in den Feierabend, beziehungsweise -morgen…? Bald geht der Frühstückstrubel los. Die Studentinnen, verhältnismässig günstige Temporärkräfte, welche laut der Hotelleitung das Personal «angenehm durchmischen» und «für eine ungezwungenere Atmosphäre sorgen», werden im Restaurant noch kurz gebrieft – mehr Einführung brauchen sie nicht zu erwarten. Glücklicherweise sind sie laut CV eh alle flexibel, anpassungsfähig und haben ein schnelles Auffassungsvermögen. Aber wie Studenten halt so sind, stellen sie jeweils schon nach kurzer Zeit sämtliche Abläufe in Frage, woraufhin die Grabenkämpfe zwischen ihnen und dem festangestellten, ausgebildeten Servicepersonal – mehrheitlich mit Migrationshintergrund oder aus dem nahen Ausland stammend, also die neben Temporärkräften günstigsten Lösungen – ausbrechen. Aber das ist nicht wirklich mein Problem.

Messeübliches Frühstückschaos

Ab halb acht steigt der Geräuschpegel merklich an. Kling, die Lifttür geht auf. Klick, klack, klick, klack, eine Frau stolziert auf hohen Absätzen durch die Lobby, klick, klack. Dann verhallt das klick, klack. Irgendwo klingelt ein Telefon. Und schon wieder Kling, der Lift, und draussen fährt eine Tram durch, und das verdammte Telefon klingelt fröhlich weiter, und der Portier tippt irgendetwas an seinem Computer, und irgendwo geht eine Tür auf und dann wieder zu. Und plötzlich sind wir mitten im messeüblichen Frühstückschaos, das sich bei mir an der Bar glücklicherweise auf unzählige frischgepresste Orangensäfte, Kaffee und Croissants beschränkt; das sich aber jetzt, aus der Erinnerung, nicht mehr fehlerfrei und lückenlos rekonstruieren liesse.

Ich erinnere mich, dass so gegen halb zehn Frau Vischer durch die Lobby scharwenzelte; wie immer äusserst distinguiert gekleidet. Frau Vischer! … guten Morgen. Ich wollte sie von der kleinen, hellblaugekleideten, leicht dicklichen Frau ablenken, die gerade versuchte, ihren Putzwagen aus dem Gästelift zu schieben. Keine Chance. Tatjana, wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie mit dem Putzwagen nicht durch die Lobby fahren dürfen, wenn hier Gäste sind?, brüllt Frau Vischer wenig distinguiert durch die ganze Lobby. An der Stelle will ich betonen, dass die meisten Gäste um diese Uhrzeit längst irgendwo in der Kulisse der neuen Messehallen verschwunden sind.

Die negativen Schlagzeilen zu undurchsichtigen Subunternehmerketten, Scheinselbstständigkeit und Lohndumping beim Messeneubau sind vergessen. Die Aussteller lassen sich gerne von der schönen Fassade blenden und auch sonst sind Besucher wie Anwohner beeindruckt, wie schnell dieses Messegelände aus dem Boden gestampft wurde. Ähnlich, wie zuvor schon das Vogelnest in Peking – man kann allerdings daran zweifeln, ob sich Ai Weiwei davor nochmal mit den Lokalmatadoren und Stars der internationalen Architekturszene hätte ablichten lassen; wäre er denn ausreiseberechtigt… Die Zugvögel, die nun aus dem Süden über Basel wieder in den Norden fliegen, könnten in Hamburgs so einiges von den Dächern pfeifen. Nur gut sind die hiesigen Gewerkschaften und Steuerzahler nicht so störrisch. Wen, ausser vielleicht die Unia, interessieren jetzt noch die polnischen Gipser, deren Lohnansatz weit unterhalb jedes Mindestlohnansatzes liegt. Oder die 50 slowenischen Elektriker, die wahrscheinlich weiterhin auf ihre Löhne warten. Damit das Image des Wirtschaftstandorts stimmt, zahlt die Messe eine Viertel Million Franken an die Kontrollstellen, damit bis zum Messeende alle Misstöne verstummen. Ein Schelm, wer jetzt Schlechtes denkt.

Surreale Welt

Letztes Jahr musste ich für einen Gast irgendetwas in einer dieser Hallen erledigen; was, weiss ich ehrlich gesagt nicht mehr. Das einzige, woran ich mich erinnern kann, ist die spektakuläre Innenausstattung der damals noch alten Messehalle. Es ist eine surreale Welt aus Glitzer, Glamour und hohen Stillettoabsätzen, mit Aquarien und mehrstöckigen Ausstellungsständen mit eingebautem Lift. Überwältigend. Für manche zu viel des Guten.

Kurz vor zehn wurde dann eine der temporären Aushilfen aus dem Restaurant zu mir rüber delegiert. Sie strahlte mich mit ihrem Strasssteinchen auf dem Zahn dümmlich an. Vielleicht hätte ich sie gleich mit Verweis auf die Kleiderordnung des Hotels, welche sichtbare Piercings, auffälligen Schmuck, Nagellack, penetrantes Parfüm verbot und nur dezentes Make-Up zuliess, nach Hause schicken sollen. Ihr «sehr gutes» Englisch reicht kaum für zwei Sätze Smalltalk mit den Gästen aus London an Tisch vier. Anscheinend spricht sie auch «gut» Spanisch und hat «Grundkenntnisse» in Französisch. Bei einer Messe, deren Homepage auf elf Sprachen verfügbar ist – neben den Landessprachen Deutsch, Französisch und Italienisch, natürlich die Weltsprachen Englisch und Spanisch, bis hin zu Japanisch, Russisch, Chinesisch oder
 Arabisch, ausgerichtet auf die lukrativsten Absatzmärkte – wäre dies, wenns dann auch objektiv so wäre, von grossem Nutzen.

Als ich den bestellten Espresso an Tisch vier bringe, erklären mir die beiden leicht verdutzten Gäste höflich, dass sie eigentlich noch einen Multivitaminsaft, ein Croissant und Käse dazu geordert hätten. Wie kann man so viele Dinge auf einmal vergessen? Beziehungsweise, selbst wenn man die Sprache überhaupt nicht versteht, könnte man merken, dass, was auch immer das wortwörtlich geheissen haben mag, was die alles gesagt haben, es, schon allein von der Anzahl Worte her, höchstwahrscheinlich nicht bloss «ein Espresso bitte» geheissen haben kann… Aber vielleicht bin ich da ein bisschen intolerant.

Der Herr an Tisch sieben winkt mich zu sich und bittet mich, ihm eine Zeitung zu bringen. Und während er sich auf den neusten Stand bringt über die üblichen Schreckensmeldungen von Überschwemmungen in Südostasien und Unruhen im Nahen Osten und so weiter und so fort, mache ich meine erste Pause.

Sojamilch und Unterhose

In der Kantine tratschen die Mädels vom Roomservice: Als ich eben bei der 227 den Cappuccino mit Sojamilch vorbeigebracht hab, hab ich so geklopft und wie immer – Roomservice – gerufen. Da kommt der Alte und zieht sich, während er aufmacht und mich reinlässt, seine Unterhose an, fummelt noch so rum und kratzt sich, als ich rausgehe am Arsch.

Während ich mir ein Croissant und sonstige Resten vom Frühstücksbuffet hole und eine Cola rauslasse, erzählen sich die Mädels von allerhand exotischen, penetrant parfümierten Schönheiten verschiedenster Haar- und Hautfarben in den diversen Zimmern der achsofeinen Geschäftsleute. Kann eine von euch heute die 665 abräumen? Der Widerling glotzt mir immer voll übel auf die Titten. Und als ich dem heut Morgen sein Frühstück gebracht habe, hatte er noch nicht mal gelüftet und im Bad lagen megaviele Zeitungen überall am Boden verstreut.

Als ich zurück in die Lobby komme, fällt es mir schwer, das eben Gehörte mit den bis in die Haarspitzen geschniegelten Businessmännern zusammenzubringen, die wahrscheinlich grad Millionendeals abschlossen. Allzu viele Gedanken konnte ich daran allerdings nicht verschwenden, denn scheinbar irritiert schauten, man könnte auch sagen starrten, die meisten Gäste zur Drehtür. Dort versuchte ein Obdachloser einen offensichtlich nur schwer steuerbaren, mit zahlreichen Tüten vollbeladenen Kofferkuli durch die Drehtür zu schieben. Eine Tüte scheint runtergefallen zu sein, denn er sammelt gerade mühsamst den am Boden verstreuten Inhalt zusammen, was in seinem wahrscheinlich nicht wirklich nüchternen Zustand nicht ganz einfach war. Als er nun endlich die eine Tüte gepackt und auf den Wagen zurückgestellt hat, löst sich dadurch eine andere und deren Inhalt verteilt sich über den Boden. Keine Ahnung, wie lange das schon so geht. Rund um die Drehtür hat sich auf jeden Fall schon ein beachtlicher Menschenauflauf versammelt, Personal aus dem nahegelegenen Restaurant und natürlich von der Reception sowie einige Gäste, die alle gute Ratschläge wussten. Was sölli au mache, was … ojemine, seufzte der Penner.

Neben die Kasse hatte zwischenzeitlich wieder irgendjemand ein Merkblatt zum Thema Falschgeld an die Bar gelegt, worin wir nochmals darauf hingewiesen werden, keine Tausender zu wechseln usw. Bei all den Anzugträgern ist es nicht nur unmöglich, die unordentlichen Ferkel und Freier aus der Masse zu filtern; auch bei Diamantendieben und Geldwäschern wirds problematisch. Organisierte Kriminalität und Millionendiebstähle gehören seit Jahren zur Messe dazu; was von den Ausstellern als Risikofaktor einkalkuliert wird. Für den worst case ist man ja schliesslich gut versichert und die Presse hat was zu berichten.

Marx statt Tell

Für Geldwäscher ist die Messe ein Kinderspielplatz, denn in der Schmuckbranche gehört es auch im Kreditkartenzeitalter noch zum guten Ton, bar zu bezahlen. Vielleicht sollte Banksy seine gefälschten Pfundnoten hier in Umlauf bringen, um die Aktion dann während der Art Basel medienwirksam als grosse Kunst zu vermarkten. Statt die Queen durch Lady Di zu ersetzen, könnte man auf dem Fünfliiber statt Tell Marx einprägen lassen; als schadensbegrenzende Massnahme. Wobei Arafat Tell rein vom Aussehen her näher stehen würde…

Einen Espresso und ein Glas stilles Wasser bitte, sagt ein Gast wie beiläufig zu mir. Gerne, sage ich und greife gleichzeitig nach einer Espressotasse. Gibt es hier irgendwo eine Garderobe?, fragt er. Ja, gleich hier um die Ecke, rechts von der Treppe. Das müsste so gegen elf Uhr vierzig gewesen sein, denn wenig später ging der Mittagsbetrieb los. Als derselbe Gast kurz vor eins wieder gehen will, merkt er, dass ihm 10’000 Schweizer Franken aus der Mantelinnentasche geklaut wurde. Unfassbar. Wer vergisst denn bitte so viel Geld, beziehungsweise lässt es einfach so in einer unbeaufsichtigten Garderobe?

Nachdem ich bei der Polizei meine Aussage gemacht habe, kann ich endlich in meine Pause. In der Kantine sitzen diverse neue Gesichter, wahrscheinlich aus dem Bankettservice. Ich setze mich an einen Tisch am Fenster, wo neben einer brünetten, stupsnasigen Studentin noch ein Platz frei ist. Hi … hallo … freut mich … hallo … ich bin Simon … nee, Barkeeper. Ob ich schon lange hier arbeite? Ja, aber nicht fest …ja, auch auf Abruf … sonst? … studieren … Geschichte und neuere Literatur. Immerhin bleibt mir die Frage erspart, was ich denn bitte mit – so – einem Studium später einmal machen will im Leben; sind ja selbst grösstenteils Studenten.

Diamant gestohlen

Ich wende mich meiner hübschen Sitznachbarin zu, erzähle von dem aktuellen Diebstahl und von einem von vergangenem Jahr, als hier im Hotel ein Diamant aus dem Zimmer eines Gasts geklaut wurde und sämtliche Mitarbeiter mit keycard im Verdacht standen, bis der Fall irgendwann ad acta gelegt wurde. Ich verstelle meine Stimme, als ich sage, s’isch nöd dr materielli Wärt, wüssed si, abr ich häng emotional sehr dranne. Meine hübsche Sitznachbarin hing mir förmlich an den Lippen.

Glaub ihm nicht alles, was er so erzählt. Er übertreibt immer ein bisschen!, stellt mich der Eventmanager, ein guter Kumpel von mir, bloss, der sich ebenfalls zu uns an den Tisch drängt. Haha … aber krass, wie viel Geld hier überall einfach so rumliegt. Heute Morgen hat mir ein Gast eine Uhr gezeigt. Als ich gefragt habe, wie viel die kostet, meinte er, um die 60’000. Und die war nicht mit Diamanten eingefasst oder so; geschweige denn besonders schön. Dem musst du an den letzten Messetagen nochmal schöne Augen machen, mischt sich mein Kumpel schon wieder ein. Letztes Jahr hat beispielsweise die Roomservice-Chefin von einem Stammgast Perlohrringe geschenkt bekommen, die er nicht verkauft hatte. Oh wow, meinte die hübsche Studentin.

Pass bloss auf, versuchte ich mich abermals an sie ran zu spielen. Vielleicht war dein Uhrenhändler ein besonders gewiefter Taschendieb, der die Uhr absichtlich vor- oder zurückgestellt hat, und sich, indem er sie dir anprobiert und du dann natürlich drauf geschaut und so vielleicht unbewusst eine falsche Uhrzeit mit eurem Zusammentreffen in Verbindung bringst, ein Alibi verschafft hat für die Zeit, während er die Mäntel meiner Bargäste durchsucht hat und fündig geworden ist. Sie lachte.

Der Nachmittag verlief relativ ruhig. Die Polizei zog irgendwann erfolglos weiter und kurz vor sechzehn Uhr wurde ich vom Barchef der Spätschicht abgelöst. Als ich mich frisch geduscht in der Personalumkleide fertig machte, kam mein Kumpel zufällig grad zum Pinkeln vorbei. Alter, ich wollt dich ja eben vor der Kleinen nicht blamieren oder so, deshalb hab ich vorher nix gesagt, aber der Neue von der Reception hat mir heut Morgen erzählt, du hättest gestern Abend an der Bar eine Escortlady von irgend einem Geschäftstypen angebaggert und sie später mit aufs Zimmer genommen?

Nächster Artikel