Die «Nachtwach»-Moderatorin Barbara Bürer über Voyeurismus, Verzweiflung und Begegnungen, die ihr Leben veränderten.
In den Zeiten von Internet, Facebook und Twitter wirkt sie fast ein wenig wie Steinzeitfernsehen, die Telefon-Talksendung «Nachtwach». Jeden Dienstag ab Mitternacht sitzt Barbara Bürer einsam im Studio des Schweizer Fernsehens und spricht mit den unsichtbaren Anrufern aus dem Off über Höhen und Tiefen des Lebens: über «sexuelle Verwirrung», «Begegnungen mit Folgen», «Parallelwelten», «Stille», über familiäre Probleme, Wendepunkte, Niederlagen und Siege.
Mit rund 1500 Anrufern hat die 57-Jährige in den vergangenen sechs Jahren gesprochen, rund 30 000 Zuschauerinnen und Zuschauer erreicht die «Nachtwach» jeweils zu nachtschlafender Stunde, ebenso viele Leute hören zeitgleich auf DRS 3 zu.
Die Schicksale, mit denen sie in ihrer Sendung konfrontiert werde, setzten ihr selber zuweilen stark zu, sagt Barbara Bürer. «Es sind aber immer auch Menschen darunter, die ihr Leben mit eindrücklichem Durchhaltevermögen und Willen bewältigen – Lebensgeschichten, die Mut machen.»
Sie beschäftigen sich Woche für Woche mit dem Schicksal von Menschen, die um den Sinn des Lebens ringen – stumpft das einen mit der Zeit nicht ab?
Barbara Bürer: Nein. Die «Nachtwach» wird ja nur einmal pro Woche ausgestrahlt – im Unterschied zu ähnlichen Sendungen im Ausland. Meine Vorfreude auf die «Nachtwach» ist immer sehr gross – weil ich in diesen Nächten stets mit Neuem und Spannendem konfrontiert werde.
Kritiker werfen Ihnen und Ihrer Sendung vor, dass Sie den Voyeurismus bedienen.
Wenn man im Journalismus mit Menschen zu tun hat, ist immer eine Prise Voyeurismus dabei. Man erhält als Reporterin oder Interviewerin Einblick in das Leben der Leute, in ihre Gefühle, möchte wissen, wie sie denken, wie sie mit Brüchen umgehen. Und dann kommt es darauf an, wie ich als Journalistin diese Eindrücke dem Publikum vermittle und welche Form ich finde, den Voyeurismus nicht allzu fest zu bedienen.
Handelt es sich denn nicht um eine heikle Gratwanderung zwischen Unterhaltung und bitterem Lebensernst?
Es ist ganz klar eine Gratwanderung. Da gibt es nichts wegzudiskutieren – gerade wenn man eine Live-Radio- und TV-Sendung macht. Hier muss man als Moderatorin genau aufpassen, wo man weiterfragt, wo man die Anruferinnen und Anrufer vor sich selber schützen muss und wo Türen aufgemacht werden dürfen. Der Respekt vor dem anderen ist ganz zentral: Die Anrufenden sollen ihre Anonymität bewahren können. Ich will sie ja nicht nackt ausziehen.
Wie erklären Sie sich, dass Menschen vor einem grossen Publikum ihr Innerstes preisgeben und über existenzielle Dinge sprechen, die sie sonst nur ihrem besten Freund anvertrauen würden?
Ich glaube, es ist die ganz spezielle Situation in der Nacht und die Anonymität, die die Leute so offen über sich reden lässt. Die Anrufenden kommen auch nicht unvorbereitet in die Sendung, ihre Geschichten werden immer zuerst von der Redaktion angehört. Viele Leute lassen sich auch während der Sendung zum Mitmachen motivieren – weil sie das Thema interessiert, weil sie auf einen Vorredner reagieren wollen. Oder sie rufen vielleicht auch aus einer gewissen Einsamkeit heraus an.
Wie sind Sie eigentlich zu diesem Job gekommen? Sie haben ja keine psychologische Ausbildung genossen?
Nein, das habe ich nicht. Ich wurde – zusammen mit rund zwei Dutzend weiteren Kandidaten – vom Schweizer Fernsehen und Radio angefragt, ob ich mich für eine solche Sendung interessieren würde. Ich dachte damals, da hast du sowieso keine Chance – als bereits 52-jährige Frau … Geholfen hat mir sicher, dass ich mich als Journalistin schon immer für Menschen interessiert und Porträts geschrieben habe.
Sie sind nicht nur Pionierin mit der «Nachtwach», der ersten Call-in-Sendung der Deutschschweiz. Sie waren Anfang der 1980er-Jahre auch die erste Frau, die am Schweizer Radio Eishockeyspiele kommentierte. Stürzen Sie sich gerne in Abenteuer?
Mich reizt das Neue. Ich wollte schon immer Dinge ausprobieren, weitergehen … Ursprünglich wollte ich Sportlerin werden, ich merkte aber schon bald, dass ich das nicht schaffen würde. Also wurde der Sport für mich zum Einstieg in den Journalismus. Ich hatte keinerlei Vorbildung und keine Matur, schrieb während meiner KV-Lehre für eine Lokalzeitung, dann – als Sekretärin beim Schweizer Fernsehen – für den Sportteil des «Tages-Anzeigers». Danach machte ich ein Journalismus-Volontariat, und später arbeitete ich bei DRS 1. So kam es schliesslich dazu, dass ich 1982, in kurzen Einschaltungen, ein Eishockeyspiel kommentieren durfte. Ich glaube, ich war ziemlich schlecht, ich hatte ja nicht so viel Ahnung von Eishockey … (lacht)
… und die männlichen Zuhörer waren schockiert, dass da plötzlich eine Frau kommentierte …
Total!
Sie sagten einmal, ein «Nachtwach»-Gespräch sei auch ein Spiegelbild Ihrer selbst …
… ich denke eher, dass ein «Nachtwach»-Gespräch ein Spiegelbild der Gesellschaft ist – und ich kann mich zum Teil darin sehen.
Wie meinen Sie das?
In der «Nachtwach» kommen Menschen zu Wort, die sonst nie Akteure sind in den Medien. Diese Leute erzählen aus ihrem Leben – nicht sehr lange, aber meistens sehr intensiv. Und oft sprechen sie Dinge an, die einen selber beschäftigen. Ausserdem erhält man Einblick in eine Schweiz, die für einen sonst vielleicht gar nicht so sichtbar ist.
Inwieweit lassen Sie sich in die Geschichten Ihrer Anrufer involvieren?
Es gibt Lebensgeschichten, die mich nicht mehr so schnell loslassen, die mich manchmal sogar monatelang verfolgen. Aber ich habe sicher auch eine gewisse Routine im Umgang mit schwierigen Geschichten – ich schrieb als Journalistin immer mehr über die Verlierer und die Gestürzten als über die Gewinnerinnen. Dazu kommt, dass ich eine gewisse Distanz bewahre. Ich gehe mit den Porträtierten nur einen gewissen Weg mit – dann verabschiede ich mich wieder. Und ich habe auch gewisse Rituale, die mir helfen, Abstand zu wahren.
Welche denn?
Nach den Sendungen machen wir im Team, zu dem auch eine psychologische Beraterin gehört, eine Nachbesprechung. Es ist mehr als eine Sendekritik. Wir besprechen jede Geschichte durch, und alle können sagen, was Ihnen gefallen hat – aber auch, was Ihnen an die Nieren gegangen ist.
Welche Lebensgeschichte hat Sie am meisten berührt?
Ich hatte in den vergangenen sechs Jahren mit rund 1500 Menschen Kontakt. Darunter gibt es viele Geschichten, die mich sehr beschäftigt haben … Eigentlich aber sind es immer die neusten Geschichten, die mich einholen.
Zum Beispiel?
Kürzlich rief eine Frau an, die sich von Ihrem Mann trennen wollte. Als sie nach Hause kam, stand der Mann im Korridor, hatte sich mit Brennsprit übergossen und drohte ihr, sich anzuzünden, wenn sie ihn verlassen würde. Dabei fuchtelte er mit einem Feuerzeug herum – und entzündete sich schliesslich … Grauenhaft! So eine Geschichte, solche Bilder bringe ich nicht so schnell wieder weg.
Warum tun Sie sich solchen Stress das an?
Die «Nachtwach» ist für mich eine Herzensangelegenheit. Wie gesagt: Es gibt Geschichten, von denen ich nicht weiss, dass sie in der Schweiz passieren. Es gibt Geschichten, die tragisch, schön oder lustig sind, Geschichten, die mich berühren. Und es gibt Geschichten, die mich persönlich bereichern, mir den Blick auf das Leben öffnen, weil sie mich über mich selber nachdenken lassen.
Wie merken Sie, dass ein Gespräch kippt? Dass es für den Anrufer sogar gefährlich werden könnte?
Man merkt es der Stimme an. Ich versuche dann, das Gespräch auf etwas Positives zu lenken. Ich frage zum Beispiel, was es denn Schönes im Leben des Betroffenen gebe, worin für ihn der Sinn des Lebens liegen könnte. Das hilft oft. In ganz schweren Fällen kümmert sich die psychologische Beraterin nach dem Live-Gespräch um die Person.
Nach so vielen Schicksalen, die Sie erfahren haben – zweifeln Sie nicht manchmal selbst am Sinn des Lebens?
Manchmal schon. Oft erhalte ich aber sehr positive Rückmeldungen von den Anruferinnen und Anrufern. Viele schätzen es, dass sie ihren Nöten einmal Luft machen konnten. Manche scheinen auch neue Lebenskraft aus den Gesprächen gewinnen zu können.
Worin besteht denn für Sie der Sinn des Lebens?
Schwer zu sagen … Ich halte das Leben manchmal für sehr anstrengend. Ich befinde mich aber im Moment in einer Phase, in der ich Dinge tun und Projekte angehen kann, die mir wichtig sind. Ich gab vor bald zwei Jahren meinen Zweitjob auf. Das verschaffte mir Luft. Und letztlich hat dieser gewonnene Freiraum auch etwas mit der «Nachtwach» zu tun.
Inwiefern denn?
Sagen wir es so: Es gab «Nachtwach»-Gespräche, die mich über Arbeit, aber auch über Freiheit, über Wünsche und Träume, die man leben sollte, nachdenken liessen. Einmal rief mich ein Architekt aus Murten an, der mit 60 Jahren beschlossen hatte, der rastlosen Arbeitswelt den Rücken zu kehren. Heute ist er Maler, erfindet Lampen und hat für sich das stille Leben entdeckt. Dieser Mann gab mir Mut, selber nach mehr Freiheit zu suchen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28.12.12