Vollzugsaufseher Markus Fritschin gibt den Gefangenen die Hand, wenn er ihnen begegnet. Das hat einen Grund.
Die Deckenlampe könnte man zertrümmern, Lampen kann man nicht betonieren. Alles andere ist mit Beton festgemacht. Der Tisch, das Bett, der Hocker. Ein WC-Ring fehlt auf der Toilette, das Lavabo ist winzig und stabil. Mehr gibt es nicht in den acht 12,5-Quadratmeter-Zellen im Sicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt (JVA) im aargauischen Lenzburg. Ausser Bücher. Und einen Fernseher für diejenigen, die sich die monatliche Miete von 25 Franken leisten wollen.
Auch «Monster» sind Menschen
Arbeiten muss jeder hier, auch Gefangene in Einzelhaft. So will es das Gesetz. Und dafür gibt es Lohn, wenig, aber Lohn. Ein Menschenrecht. Wie das regelmässige Essen. Und frische Luft. Einmal am Tag, in einem kleinen Hof mit Gitterdach, allein. Der Rest ist Warten. Auf den Tag X, der für viele nicht mehr als ein Traum ist.
Markus Fritschin (54) arbeitet seit 16 Jahren im Gefängnis in Lenzburg, seit sechs Jahren ist er Chef des Sicherheitstrakts. Er betreut die «Monster», über die Boulevardmedien so gern berichten. Diese Wesen, denen es zu gut gehe in den Schweizer Gefängnissen, wo «Kuscheljustiz» betrieben werde, wie es von rechts heisst. «Der Sinn des Lebens?» Markus Fritschin schaut aus dem Fenster, murmelt «ähm». Überlegt. Lehnt zurück, legt die Hände hinter den Kopf. Und sagt dann: «Dass man das, was man tut, aus Überzeugung tut. Und versucht, positive Spuren zu hinterlassen.»
Drei Mitarbeiter für zwei Meter
Das sei keine allgemeingültige Antwort, sie beziehe sich auf ihn persönlich. «Jetzt fragen Sie sicher, warum ich dann hier arbeite. Ich sage Ihnen, warum: Weil ich Menschen mag.» Und auch Gefangene seien Menschen.
Etliche schwere und vergitterte Türen müssen aufgeschlossen werden, um zu den Zellen zu gelangen. «Ich mache das automatisch», sagt Fritschin. In der Hand hält er einen riesigen Schlüsselbund, manche Schlüssel sind überdimensional gross. Sie gehören zu den Schlössern der Zellen. Wenn ein Gefangener morgens zur Arbeit gebracht wird, erhält Fritschin Unterstützung von zwei Mitarbeitern.
Die Arbeitszellen der Gefangenen im Sicherheitstrakt befinden sich keine zwei Meter von deren Wohnzellen entfernt. Doch auch auf dieser kurzen Strecke und in so kurzer Zeit könnte etwas passieren. Gewaltätig sind alle hier. Aber nicht alle sind wegen Mord, Sexualdelikten oder Körperverletzung hier gelandet. Auch ein Einbrecher kann in den Sicherheitstrakt verlegt werden. Weil er psychisch dermassen krank ist, dass keine forensische Psychiatrie der Welt noch etwas ausrichten könnte. Und weil er im normalen Vollzug eine Gefahr für Mitgefangene darstellte, diese verprügelte. Und es einfach nicht mehr ginge.
Eigentlich ist Markus Fritschin Typograf. Als solcher hat er im Gefängnis angefangen, die interne Druckerei brauchte einen wie ihn. So, wie es in der Schreinerei Schreiner braucht und im Landwirtschaftsbereich Bauern. Markus Fritschin gefiel der Job mit den Gefangenen. Bloss die berufliche Sozialkompetenz fehlte.
Er liess sich zum Sozialpädagogen ausbilden. Und widmete seine Diplomarbeit dem Sicherheitstrakt. Es wäre leicht gewesen, die 50 Seiten mit Erfahrungen seines Alltags zu füllen.
Zwei Sekunden Körperkontakt
Doch Fritschin wollte es genau wissen – und liess sich als Herr Steffen eine Woche lang einsperren. Seine Mitarbeiter behandelten ihren Chef so, wie sie alle Gefangenen behandeln. Mit Respekt. Und als Mensch. Dazu gehört es, vor der Essensausgabe «Guten Tag» zu sagen und dem Gefangenen die Hand zu geben. «Mir wurde erst bewusst, wie wichtig dieser Akt ist, als ich eingesperrt war», sagt Fritschin. «Es ist der einzige Körperkontakt, den die Gefangenen haben.»
Zellennachbarn sehen sich nie
Von den acht Gefangenen im Sicherheitstrakt bekommt nur einer Besuch von Angehörigen. Die anderen sehen nur Markus Fritschin und sein Team, Ärzte, Therapeuten, Seelsorger. Wenn keine Untersuchung nötig ist, finden die Gespräche in einem Raum statt, in dem der Gefangene und sein Gegenüber durch eine dicke Scheibe getrennt sind.
Die Mitgefangenen bekommen sie nie zu Gesicht. Die Männer leben Wand an Wand, hören, welche Musik der Nachbar mag und ob er schnarcht. Aber sie haben keine Ahnung, wer der Nachbar ist, wie er aussieht. Die Gefangenen haben viel Zeit, nachzudenken. Die Frage nach dem «Sinn des Lebens» beantworten sie alle gleich.
«Alle träumen von Freiheit», sagt Markus Fritschin. «Auch diejenigen, die wissen, dass sie höchstwahrscheinlich den Rest ihres Lebens in einem Gefängnis verbringen werden.» Sie malten sich aus, wie ihr Leben nach der Haft aussehen könnte. Was sie arbeiten würden, ob sie eine Familie gründen würden, welchen Hobbys sie nachgehen würden. Im Konjunktiv ist alles möglich. In den Gesprächen, die Fritschin mit den Gefangenen führt, geht es nicht immer um die Sinnfrage. «Manche erzählen von der Heimat, selten geht es um das Delikt. Andere wollen über den Fussballmatch vom Vorabend sprechen.»
Freiheitsverlust ist Strafe genug
Es gebe Menschen, die das nicht verstehen könnten, sagt Fritschin. Dass er mit Schwerverbrechern über Fussball rede. «Diesen Menschen ist nicht bewusst, was eine Freiheitsstrafe bedeutet», sagt er. Der Verlust der Freiheit als solcher sei Strafe genug. Er selber habe nach seiner «Entlassung» das Altpapier entsorgt, als gäbe es nichts Schöneres. «Und der Gedanke, einfach verreisen zu können oder auch nur einen Spaziergang im Wald machen zu können, war wunderbar.»
Als Fritschin seinen Job antrat, hielt er den kleinen Spazierhof für einen schrecklichen Ort. Beton, Gitter, ein Fussball – sonst nichts. Als «Gefangener» habe er Frieden damit geschlossen. «Weil ich kurz die Sonne spüren konnte und den Regen.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28.12.12