«Ich spiele immer die Hauptrolle»

Der Basler Schauspieler Gilles Tschudi gestaltet seine Rollen am liebsten frei. Und auch bei der Filmförderung sähe er es lieber, wenn unkonventionelle Wege beschritten würden. Ein Gespräch. Gilles Tschudi hat in «Grounding – Die letzten Tage der Swissair» Marcel Ospel gespielt und erhielt 2004 für seine Rolle in «Mein Name ist Bach» den Schweizer Filmpreis. […]

Gilles Tschudi als Marcel Ospel: «Ich habe ihn aufgesogen. Es hatte etwas Vampiristisches.»

Der Basler Schauspieler Gilles Tschudi gestaltet seine Rollen am liebsten frei. Und auch bei der Filmförderung sähe er es lieber, wenn unkonventionelle Wege beschritten würden. Ein Gespräch.

Gilles Tschudi hat in «Grounding – Die letzten Tage der Swissair» Marcel Ospel gespielt und erhielt 2004 für seine Rolle in «Mein Name ist Bach» den Schweizer Filmpreis. Der international tätige Basler Schauspieler drehte zuletzt in Bulgarien und zur Zeit in Berlin. Dieses Wochenende allerdings weilt er am Rheinknie: Als Jury-Präsident beim Gässli-Filmfestival. Wir haben uns mit ihm über den Nachwuchs und die Schweizer Filmförderung unterhalten.

Gilles Tschudi, wie ist Ihre ­Verbindung mit der nächsten ­Generation von Filmemachern?

Ich habe drei Söhne im Nachwuchs­alter. Die haben vor Kurzem eine kleine Produktionsfirma gegründet. Kein einfacher Job. Weil die Alten die öffentlichen Geldquellen besetzt halten, ist es das Los der Jungen, sich mit No-Budget-Produktionen einen Namen zu machen. Sie werden von den Fördergremien erst wahrgenommen, wenn sie sich als Investi­tionsobjekt lohnen.

Fördert die Schweizer Film­förderung nur sichere Werte?

Die Förderung hat zumindest zu kurze Antennen, um Talente wirklich aufzuspüren und zu begleiten. Talente zeichnen sich nicht immer dadurch aus, dass sie gute Budgets entwerfen und peppige Anträge ­formulieren können. Die Förderung setzt auf Drehbücher. Aber an einem Drehbuch lässt sich ein Film nicht ablesen: Hätte Godard seine Filme als Drehbücher einreichen müssen, man hätte ihn gewiss abgelehnt.

«Wir haben zu wenig gute Filme, die aus guten Drehbüchern entstehen.»

Doch die Förderung denkt, wenn das Drehbuch schlecht ist, wird auch der Film schlecht?

Ja. Doch das Drehbuch war noch nie der Film. Trotzdem geht durch die Gremien aber immer noch vor allem das Drehbuch. Sobald der Bund ­dahintersteckt, wird auch die ­Produktionsfirma einer eingehenden Prüfung unterzogen. Damit anständige Löhne gezahlt werden. Es ist auch einleuchtend, dass ein Produzent beteiligt werden muss, der ­etwas mehr Erfahrung hat als die Künstler. Junge Filmemacher müssen also auch einen Produzenten ­suchen, der verantwortlich für das Budget zeichnen will.

Haben wir zu wenig gute Drehbücher?

Nein. Wir haben zu wenig gute Filme, die aus guten Drehbüchern entstehen. Wir haben aber viele mittelmässige Filme, die aus schlechten Drehbüchern entstehen.

Welches sind Ihre Schweizer Lieblingsautoren?

Martin Suter. Thomas Hürlimann.

Das sind Autoren, die selber eher filmisch schreiben. Wer gehört denn zu den Drehbuchschreibern, die wir kennen?

Wir kennen sie eben nicht. Weil wir nur die Filme kennen, die auf ihren Arbeiten basieren. Micha Lewinsky. Lorenz Keiser. Auch die Hunkeler-Drehbücher nach den Romanen von Hansjörg Schneider. Die kennen wir. Das ist gut und – brav.

Wie sollte denn freche Förderung aussehen?

Talente sollten in produktive Zusammenhänge gebracht werden. Maurice Pialat, Godard haben sich in produktive Zusammenhänge gebracht: Ohne Drehbuch zu drehen, war 100 Prozent mehr Risiko, aber auch 100 Prozent mehr Film!

«Welcher junge Filmer hat heute wirklich etwas zu sagen? Das müsste interessieren.»

Diese Autorenfilmer haben in ­einer Zeit gedreht, als die Filmtechnik unabhängig wurde von den Studios. Eine technische ­Revolution war im Gang.

Wie heute!

Also vorwärtsstreben in die ­Vergangenheit?

Man darf nicht unterschätzen, dass viele dieser Filmer etwas zu sagen hatten: zur Welt, zum Verhältnis der Geschlechter, zur Ausbeutung. Welcher junge Filmer hat heute wirklich etwas zu sagen? Das müsste interessieren. Wir beachten Nachwuchs­talente meist erst, wenn sie eine ­runde, abgeschliffene Geschichte ­erzählen. Die Ermutigung zum ­Kompromisslosen fehlt. Fernseh­produktionen sind notwendig. Aber meist lieblich. Junge Leute wie ­Martin Joss, die vielleicht schon ­Filmer sein könnten, müssen erst Drehbuchschreiber werden, bevor sie in die Förderungsmaschinerie kommen. Joss arbeitet zum Beispiel an einer Geschichte, die eine Radikalität hat wie Abel Ferraras «Bad Lieutenant».

Wo könnte er nun in einer Produktionsfirma einen Freipass kriegen?

Kriegt er nicht. Es gibt sie heute nicht mehr, die Firmen, die ihren Autoren einfach sagen: Mach mal. Ich sage meinem Nachwuchs: Ver­suche, niemandem zu gefallen. Versuch, deine Geschichte zu erzählen.

Das sagen Sie Ihren Söhnen?

Jeder Mensch hat sein Thema. Das erzählt er ein Leben lang. Das musst du finden. Selbst ich als Schauspieler gehe immer wieder ein Thema an. Mein Thema.

Welches ist das?

Das ewige Brechen. Das Brechen von Erwartungen, Vorstellungen, ­Gewohnheiten. Wahrheit ist nicht statisch. Sie ist immer wieder neu zu sehen. Brüche machen sie sichtbar. Auch gebrochene Menschen. Mein Leben besteht ja auch aus Brüchen.

«Basel wird in der Schweiz geliebt für seine Frechheit, Weltoffenheit. Oder es wird gehasst dafür.»

Inwiefern?

Privat. Und auch beruflich. Erfolge habe ich selten in Mehrwert verwandelt. Ich habe die erfolgreiche Zeit am Theater Neumarkt nicht in einer Theaterkarriere ausgewertet. Stattdessen habe ich im Welschland neu angefangen. Was ich in der französischen Schweiz mache, wenn ich an der «Comédie» in Genf spiele, wird hier gar nicht wahrgenommen. ­Umgekehrt übrigens auch: Die ­Welschen nehmen oft gar nicht wahr, was bei uns erfolgreich über die Bühne geht.

Das Theater war dann nur eine Option unter vielen?

«Lüthi und Blanc» kam dazwischen: Marcel Gisler, Markus Fischer, Katja Früh hatten die Drehbücher geschrieben. Und plötzlich war ich ­Seriendarsteller. Wieder in der Deutschschweiz. Obwohl Französisch meine Muttersprache ist.

Sie spielten eher einen diabolischen Kerl, oft den Bösewicht. Warum spielen eigentlich immer die Basler die Bösen?

Basel wird in der Schweiz geliebt für seine Frechheit, Weltoffenheit. Oder es wird gehasst dafür. Baseldeutsch kann eine sehr akzentuierte Sprache sein, die einschüchtert, die Schärfe hat, die ich gerade dafür mag. Aber bei mir hat das mit meinem Charakter zu tun, weniger mit dem Baseldeutsch. Ich mag es, in Frage zu ­stellen, permanent Erwartungen zu brechen.

«Ich habe Marcel Ospel an der Fasnacht angesprochen. An der Fasnacht ist in Basel jedermann öffentlich.»

Gemischte Gefühle haben Sie auch in der Rolle als Marcel ­Ospel kennengelernt.

Die Herangehensweise war mehr­gleisig. Ich habe sehr viel über seine ­Biografie in Erfahrung gebracht, vor allem auch Videomaterial von öffentlichen Auftritten studiert, bin jedoch beim Versuch gescheitert, ihn persönlich kennenzulernen: Er hat mir am Telefon gesagt, dass er nichts mit dem Film zu tun haben wolle – aus juristischen Gründen. Die UBS wollte sich vor der Premiere des Filmes absichern. Aber ich habe ihm aufgelauert. Und das war für mich eine entscheidende Begegnung, für wenige Minuten. Für mich war das lebenswichtig. Für die Rolle. Ich habe ihn an der Fasnacht angesprochen. An der Fasnacht ist in Basel jedermann öffentlich. Wer sich da nicht ansprechen lässt, verstösst gegen ein ­Gesetz, das jedem Basler geläufig ist.

Für einen Schauspieler ein Glücksfall, einer Figur gegenüberzustehen, die man spielt …

Ich habe Marcel Ospel im «Schnabel» getroffen. Kurz. Ich habe ihn aufgesogen. Es hatte etwas Vampiristisches. Jetzt spiele ich übrigens wieder eine authentische Figur. Einen freisinnigen Genfer Politiker, der einst – historisch belegt – den Deutschschweizern gezeigt hat, was die Welschen von ihnen halten, indem er ihnen die Blösse hinter der heruntergelassenen Hose zeigte. Das kommt im Film vor. Damals war ein Freisinniger noch ein Widerständler.

Eine Figur, die Ihnen naheliegt?

Mir liegen alle Figuren nahe. Sie kommen auf mich zu.  Mal langsam, mal schnell.

Auch Nebenrollen?

Ich spiele immer die Hauptrolle. Auch eine Nebenfigur ist – für mich! – eine Hauptrolle. Ich spiele demnächst mit Juliette Binoche einen Zürcher Bürgermeister. Eine kleine Rolle. Aber ich nehme sie ernst, als wäre sie eine grosse Rolle, auch wenn ich in einem Studentenfilm arbeite und nichts verdiene. Ich halte mich fit. Ich bin nur Schauspieler, wenn ich schauspiele. Ich verlasse während ­einer Dreharbeit manchmal für Tage die Figur nicht. Letztlich bin ich auch in meinem Leben eine Figur.

Welche?

Zurück zum Nachwuchs.

«Ich habe meinen ­Kindern immer nur nahegelegt, ihre eigenen Träume zu leben.»

Waren Sie glücklich, als Ihnen Ihr Sohn sagte, er wolle Filme machen?

Mein Sohn Rafael hat mir vor ein paar Tagen von einem Drehbuch erzählt. Den Film dreht er im Laden der Mutter, weil da der Drehort schon einmal gesichert ist … Ja, ich bin glücklich. Wir leben in einem Land, da muss man sich als Künstler immer organisieren, aber verhungern wird niemand.

Haben Sie mit Ihren Kindern Filme angeschaut?

Ich habe meinen Kindern nie die Kunst nahegelegt. Sie sind mit Serien aufgewachsen. Mit französischen Filmen, mit den Italienern auch: mit ­Pasolini, mit Fellinis Bildhaftigkeit, mit seiner Versponnenheit, die übrigens heute auch durch keine Gremien gefördert würde. Ich habe meinen ­Kindern immer nur nahegelegt, ihre eigenen Träume zu leben. Auch wenn sie dafür gegen den Strom schwimmen müssen.

Widerstand zu leisten?

Das in Frage zu stellen, was ist. Nicht im Glauben zu leben, unser Wissen von dem, was ist, sei gesichert. Die Welt immer neu zu entdecken. Als Schauspieler kann ich lange über meine Figur oder meinen Beruf ­reflektieren. Aber wenn ich spiele, tue ich das, ohne gross darüber nachzudenken. Sonst bin ich als Schauspieler mein eigener Dramaturg. Ich fühle mich manchmal wie eine leere Hülle, die sich mit etwas füllt.

Wie wird das im Film sichtbar?

Schwer zu sagen. Ein Film besteht ja nur zu einem kleinen Teil aus dem Wort. Viele Filme werden heute ­zugeredet. Zu viele Erklärungen können einen Film töten. Die meisten Regisseure entwickeln kaum mehr Fantasie für Bilder. Würde heute jemand ein Drehbuch mit fünf Sätzen abliefern, er würde kaum ­einen Film machen dürfen.

Haben Sie lieber Drehbücher, die Ihnen Freiheit lassen?

Als Schauspieler spiele ich nicht den Text. Den erfährt der Zuschauer ohnehin. Ich spiele, was nicht im Text steht. Entlang den Linien des Textes. Das Drehbuch ist also für einen Film höchstens ein Anhaltspunkt. Das Spiel wird spannend, wenn das ­andere dazukommt. Wenn aber im Drehbuch schon alles erklärt wird, langweile ich mich. Nur Figuren in schlechten Filmen erklären sich ­umfassend. Wenn sie es im Leben tun, dann lügen sie. Dann wird das Spiel interessant. Weil jede menschliche Erklärung etwas versteckt.

Was braucht nun die Filmszene in der Schweiz?

Ich habe da einen Traum: Man könnte an einem kleinen Theater, wie zum Beispiel in La Chaux-de-Fonds oder letztlich auch Basel, Filmregisseure und kleine Schauspielensembles zusammenbringen, um so im Labor Szenen zu entwickeln, Drehbücher zu vervollständigen. Im Welschland fällt es übrigens leichter, auf offene Ohren zu stossen.

Eine Hochschule aber will junge, wilde Künstler nicht zu jungen, wilden Künstlern ausbilden, sondern zu Altmeistern …

Deshalb kann eine Hochschule nur wenig innovativ sein. Für den Nachwuchs müsste die ganze Produktionsweise neu bedacht werden. Mit den digitalen Möglichkeiten kann heute ein Nachwuchsfilmer viel mehr ausprobieren. Das Drehmaterial ist entschieden günstiger, als es der Film war. Die Technik wird zugänglicher. Das bedeutet, dass sich Film heute in der Produktion stärker dem Theater annähern könnte. Der oder die Filmemacherin fände dort eine breite Übungsmöglichkeit für Schauspielführung, Drehbuchentwicklung etc. Und Testpublikum! Ich finde da in den Gesprächen mit jungen Filmemachern durchaus Interesse. Es gibt ja auch bereits solche ­Arbeitsformen am Theater – ich erinnere mich an die Improvisationen zu Urs Widmers «Top Dogs» am Theater Neumarkt. Oder im Film an die Werke von Andreas Dresen.

«Die Fördergremien fördern Konventionelles. Weil es Erfolg verspricht.»

Die Autoren verdichten also, was die Schauspieler spielen? Damit die Schauspieler die Dichtung weiterspielen können. Davon kann ein Schauspieler träumen. Aber die Fördergremien?

Das ist sicher ein unkonventioneller Weg. Ich habe kürzlich eine Reihe von Kurzfilmen von Marie-Elsa ­Sgualdo gesehen. Eine gesunde Mischung aus Rebellion und gesetzter Intellektualität. Die hat vier Kurzfilme gemacht, die alle spannend erzählt sind, mit einer frechen Kamera, mit einer aufdringlichen Nähe, die in eine überraschende Intimität führt. Vieles, was sie macht, ist eigentlich ein Unfall. Aber das macht ihre Werke fragil. Die will natürlich einen Langfilm machen. Wie? Frage ich sie und sie sagt: konventionell. Weil ich ja Gelder kriegen will.

Das heisst, um an Fördergelder zu kommen, muss der Nachwuchs möglichst konventionelle Projekte einreichen?

Die Fördergremien sehen das anders. Aber unterm Strich fördern sie Konventionelles. Weil es Erfolg verspricht. Alte Formen führen aber nicht zu neuen Erfolgen.

Nächster Artikel