Langeweile ist zugegebenermassen doof. Kann aber sehr heilsam sein. Vielleicht sollten wir sie wieder kennenlernen. Und sie unseren Kindern beibringen.
Manchmal sitze ich am Fenster und gucke einfach raus, den Menschen zu, die drei Stockwerke tiefer auf dem Trottoir ihres Weges ziehen. Dem Bus, der alle paar Minuten entweder von links oder von rechts durch mein Blickfeld zieht – seither weiss ich, wie ein BVB-Busdach aussieht.
Irgendwann fragt dann meistens meine Tochter, gerade auf dem Weg ins Bad oder in die Küche: «Was machst du?» Und ich antworte: «Nichts. Rausschauen.» Und ernte dafür einen verständnislosen Blick aus gross aufgerissenen Augen.
Der Alltag bietet manch Ärgernis, aber auch manche Freude. Diese beschreiben wir möglichst lebensnah und manchmal auch mit einem 😉 versehen in unserer Rubrik «Wahnsinn Alltag!». Und machen – wo’s nötig ist – den Faktencheck.
Nichtstun. Für meine Tochter ist das ein Fremdwort. Selbst während einer fünfminütigen Busfahrt braucht sie Unterhaltung. Als Kleinkind verlangte sie, dass jemand was vorsingt oder «Ich seh etwas, was du nicht siehst» mit ihr spielt. Dann kamen kleine Bücher zum Zug. Heute grosse Bücher – oder das Handy. Für den Vorschlag, man könne doch auch einfach mal rausschauen und die Gedanken schweifen lassen, ernte ich empörtes Kopfschütteln.
Unterhaltung ohne Standby-Modus
Ich hingegen runzle die Stirn. Und erinnere mich an meine Kindheit. Wie meine Tochter mochte ich es nicht, wenn mir langweilig war. Doch es gab keine Instant-Unterhaltung. Ich musste mir selber eine Beschäftigung suchen. Und ich hatte meist richtig gute Ideen – irgendwann.
Meine Tochter kennt das nicht mehr. Ihre ganze Generation, so fürchte ich, kennt das nicht mehr. «Wm?» steht andauernd auf ihrem Handy, gefragt von irgendeiner Schulfreundin: «Was machsch?» «Gleich mit dir chatten», wäre dann wohl die logische Antwort, die aber nie kommt.
Wer heute nichts zu tun hat, greift zum Smartphone. Da sind die Erwachsenen schlechte Vorbilder. Information, Unterhaltung, alles ist nur einen Klick entfernt. Selbst bei der Teenielieblingsbeschäftigung «Chillen» läuft sicher noch irgendwo mindestens Musik.
Das Leben ist für Teenies sowieso der pure Stress: Youtube, Snapchat, Musica.ly – alles will erforscht oder bedient sein. Und Whatsapp, wo praktischerweise die ganze Klasse als Gruppe chatten kann.
Das sieht dann (im Extremfall) so aus:
Schüler 1: «Hi»
Schülerin 1: «Hi»
Schüler 2: «Hi»
Schüler 3: «Wm?»
Schüler 2: «Wm?»
Schüler 4: «Hi»
Schüler 1: «Husi»
Schülerin 2: «Hi»
Schüler 2: «Bb»
Schülerin 2: «Bb»
…
Der Rekord auf dem Handy meiner Tochter nach zwei Stunden nicht draufschauen: 234 Nachrichten. Aufgewendete Lesezeit (damit man sicher nichts verpasst, könnte ja doch was Wichtiges irgendwo zwischendrin stehen): rund eine Viertelstunde. Informationsgehalt: null (wie langweilig, sagt da die Mutter).
Und eigentlich sollten gerade die Hausaufgaben gemacht werden. Dann steht der Tanzunterricht auf dem Programm. Und Lego bauen wollte man doch auch noch! Im Buch weiterlesen! Zeit für Langeweile bleibt dem Kind keine mehr.
Allerdings: Langweilig war’s auch mir schon lange nicht mehr. Ich tue gerne ab und zu nichts, um meine Gedanken zu ordnen. Aber Langeweile verspüre ich dann nie. Zumindest nicht die negative Form, über die sich im 17. Jahrhundert schon der Philosoph Blaise Pascal Gedanken machte:
«Nichts ist dem Menschen unerträglicher als völlige Untätigkeit, also ohne Leidenschaften, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuungen, ohne Aufgaben zu sein. Dann spürt er seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, sein Ungenügen, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Alsogleich wird dem Grunde seiner Seele die Langeweile entsteigen und die Düsternis, die Trauer, der Kummer, der Verdruss, die Verzweiflung. […] Das ist der Grund, dass die Menschen so sehr den Lärm und den Umtrieb schätzen, der Grund, dass das Gefängnis eine so furchtbare Strafe ist, der Grund, dass das Vergnügen der Einsamkeit unvorstellbar ist.»
Zu Untätigkeit verdammt zu sein mag ich auch nicht, mochte ich nie. Aber «das Vergnügen der Einsamkeit», wie Pascal es nannte, es tut gut. Wenn man es bewusst geniesst.
Das Handy einfach mal auf lautlos stellen und in einer Ecke liegen lassen. Wieder zugucken, wie die Blätter an den Bäumen gelb werden. Schauen, ob es Unterschiede gibt bei den BVB-Busdächern. Löcher in die Luft starren.
Und sich dabei überlegen, wie man seine Tochter dazu bringt, solche Momente auch geniessen zu können. Ohne dabei gestresst zu sein vom Gedanken, dass man dabei etwas verpassen könnte.
PS: Es kann heilsam sein, sich mal mit nichts zu beschäftigen. Dazu gibt es inzwischen zahlreiche Studien, von denen man natürlich beim Surfen grad keine findet, wenn man danach sucht. Dafür haben wir ein Buch gefunden, das gerade erst erschienen ist und ebenfalls genau das beschreibt: «Denken wird überschätzt – Warum unser Gehirn die Leere braucht» heisst es, und worum es darin geht, beschreibt der Autor Jörg Zittlau hier grad selber: «Warum immer denken? Mut zur inneren Leere!»
Da können Sie ja mal reinlesen, falls Ihnen grad langweilig ist.