Zigaretten rauchen und Benzin tanken – geht das gleichzeitig? Es geht. Aber rauchen ist ohnehin so eine Sache: Wie man einen Fremden trotz Kehlkopfoperation inein Rifugio geleiten kann.
«Tempo idem», sagte eine vorbeigehende Bäuerin, was etwa so viel bedeutet, wie «gleiches Wetter wie gestern». Das sollte mir noch so recht sein. Ich schulterte den Rucksack, hatte Dani vorher noch geholfen, einen Schrank zu demontieren, wanderte dann los, bis zur Kreuzung nach Caccior in Begleitung von Fiorella, Lavinia und Oriana. Ein herzlicher Abschied und dann zog ich wieder alleine von dannen.
Überholte Spaziergänger, kam nach Promontogno, am schönen Grotto von Bondo vorbei. Durch einen Wald nach Castasegna, bin noch nie dort durchgegangen und stand bald schon an der Grenze. An der Tankstelle vor der Grenze liess ich die Flasche für meinen Benzinkocher auffüllen. Der Tankwart reagierte überrascht auf meine Bitte, nahm sie wortlos entgegen und griff nach dem Füllstutzen und der Benzinflasche. Offenbar lohnte es sich nicht, bei so kleinem Auftrag die brennende Zigarette zwischen den Lippen hervorzuzerren, weshalb er mürrisch weiterpaffte. ich zog mich diskret ein paar Schritte zurück. Siebenunddreissig Rappen – wir einigten uns auf fünfzig, ich gab ihm einen Franken. Gefahrenzulage.
Letzte Landesgrenze
Ein paar Schritte noch, an den Zoll vorbei: Italien. Meine letzte Landesgrenze auf dieser Reise – weder die Schweizer noch die italienischen Zöllner beachteten mich. Zu viele Rucksäckler spazieren hier täglich durch. Im Grotto Ghiggi schepperten die ewig-gleichen italienischen Volksmusik-Schlager aus den Lautsprechern. Eingangs des Dorfes Villa zog sich rechts zwischen Gärten ziemlich versteckt mein Pfad hoch, der sich bald zu einem veritablen Waldweg ausweitensollte. Er führt ins verlassene Dörfchen Savogno. Villa wirkt wie ein trostloses Strassendorf, wenn man es auf der Strasse durchfährt. Hinter den Häuserreihen an der Strasse aber tut sich ein malerisches Dörfchen auf.
Ein munteres Treiben der Dorfjugend an einem der wenig ebenen Plätzchen, ältere und alte Leute sitzen im Schatten von Bäumen an Tischen, eine hübsche Boccia-Bahn liegt unbenutzt da.
Dann beginnt ein steter Aufstieg durch einen Laubwald, Buchen, Hasel und Kastagnen. Schattig, kühl, manchmal düster. Muss meinen Tramp wieder finden, gehe recht schnell, immer leicht bergan – und ich schwitze ziemlich.
Unten knattert ein Motorrad
Nach einer Stunde geht der Pfad über einen Fels und ich mache eine kleine Rast, trinke Tee, schaue ins Tal. Nichts als Wald. Üppig belaubte Bäume, die unten im Tal verschwinden, dahinter tut sich der Gegenhang auf, steigt steil bergan, dicht bewaldet, unten dieses helle, saftige Laubgrün, allmählich ins dunklere der Tannen übergehend. Und oben etwas Fels, spitz und kantig geschnittene Berge, drüber der Himmel, der im Grün der Bäume verschwindet. Der Hang fällt steil ab, die Baumkronen vonweiter entfernten Bäumen liegen bereits unterhalb des Weges. Hin und wieder höre ich etwas davonhuschen, Kleingetier. Zweimal auch Rehe. Irgendwo muss eine Strasse sein, auf dem ein Motorrad knattert. Zu sehen ist nichts in diesem Urwald, uferlos gewachsen in den letzten Jahrzehnten, seit es sich nicht mehr lohnt, die Wälder – und auch die früher gerodeten Lichtungen – zu bewirtschaften.
Der Weg ist schön gezeichnet, zieht sich hinan, manchmal an einer lichteren Stelle vorbei, von denen man auf Plurs hinuntersieht. Das frühere Städtchen, in das sich reiche Mailänder zur Sommerfrische zurückgezogen haben, ist nur noch eine unscheinbare Ansammlung von Häuschen im dichten Wald, etwas aufgelockert durch ein paar Wiesen. Nichts mehr von Städtchen, seit ein Bergsturz vor fünfhundert Jahren alles eingeebnet hat.
Der Berg ist von den anderen Seite herunterstürzt, aber auch die Talseite von Savogno muss ihre Stürze erlebt haben. Stellenweise führt der Weg durch ein wildes Durcheinander von herabgestürzten Felsbrocken, seit Jahrhunderten liegen sie da, unverrückbar, dicht mit Moos bewachsen.
Die Natur holt sich alles zurück
Und plötzlich, gegen Abend, plätschert ein Brunnen. Ich stehe zerfallenden Häusern, Ruinen zum Teil. In Savogno. Irgendwann muss das Dörfchen von vielen Bauern bewohnt gewesen sein, dicht steht Haus an Haus auf der kleinen Terrasse. Aber eben: Nicht mehr Haus an Haus, sondern Ruine an Ruine, nur wenige Gebäude sind bewohnbar, noch weniger bewohnt, aber die zerfallenden Mauern, die engen Gässchen, das verwitterte Holz der früheren Türen, Fenster und Geländer sehen bezaubernd aus. Überall triumphieren Zeit und Natur – der Mensch hat sich zurückgezogen, der Ursprung und die Natur holen sich alles zurück. Die Bäume sind hoch gewachsen, nur noch die Kirche überragt sie. Von der Kirchenmauer aus öffnet sich ein prächtiger Blick auf Chiavenna.
Rauchen an und für sich
Ich freue mich auf eine Zigarette, sehe mich schon, wie ich rauchend ins Tal hinunterblicke und der Mann der bereits an der Mauer im Hof der Kirche steht, stört mich erst nicht gross. Erst als er mich anspricht, irritiert er mich. Er spricht durch den offenen Kehlkopf, über den ein Tuch gebunden ist. Kehlkopf-Operation wahrscheinlich. Und er hat eine brennende Zigarette in der Hand. Irgendwie mag ich nun gar nicht mehr rauchen, mag nicht rauchend ins Tal hinunter blicken.
Ich verstehe nicht viel von dem, was er sagt. Seine Artikulation lässt zu wünschen übrig. Aber immerhinbegreife ich, dass er mir eine Unterkunft empfehlen will. Rifugio, sagt er. Er führt mich zu einem ins Berghaus, ganz in der Nähe. Es ist frisch renoviert, hat Zimmer für grössere und kleinere Gruppen. Für Bergsteiger, die von hier aus ins Gebirge starten. Es scheint kein Mensch in der Nähe zu sein. Mein Begleiter verschwindet. Irgendwann geht eine Tür auf und ein junger Mann bittet mich herein.
Es wird sehr bewusst gekocht hier, gesund und biologisch, vorzüglich und fein. Die jungen Wirtsleute führen das Rifugio allein, sie duzen alle Leute, machen sehr auf Kameradschaft, er bietet ein feines Malzbier aus Chiavenna an. Sie bittet mich, die Wanderschuhe vor der Tür hinzustellen und führt mich in einen Saal mit acht Pritschen. Allerdings bin ich der einzige Gast in diesem Raum.
Der Esssaal ist geschmackvoll rustikal eingerichtet. Aber es will irgendwie keine Stimmung aufkommen. Es sind drei weitere Gäste aufgetaucht, sie kennen sich aber nicht. Alle sitzen allein an einem Tisch. Es gelingt nicht, ein Gespäch in Gang zu bringen. Der Blick durch die Fenster: Wald und Wald und Berge und Wald, überall wuchert Wald, am oberen Fensterrand ein wenig Himmel, ganz selten ein weisser Punkt, ein Häuschen, und sonst Wald, Wald, Wald.
(Savogno, 25. Juli 2002)