Ein lockerer Sonntagspaziergang sollte es werden – mit gemütlichen Plaudereien in Bistros und Beizen. Doch die Wirte machen nicht mit.
Mein Zelt ist ja eigentlich nur für eine Person eingerichtet. Für mich. Und auch für meinen Rucksack. Nun wollten wir aber zu zweit darin übernachten. Büttner und ich. So mussten die Rucksäcke draussen bleiben. Büttner ist zwar grösser als mein Rucksack. Aber es ging auch. Nicht so gut, aber es ging. Er, der Büttner, hat herrlich geschlafen. Ich auch. Aber ich bin früh erwacht. Und weil er irgendwie so herrlich geschlafen hat, robbte ich mich dann beim Morgengrauen raus und hab zugesehen, wie dieser neue Tag erwacht. Herrlich ist dieser Sonntagmorgen angerichtet – ein makelloses Blau vor reifem Gerstengelb, eine Sommersonne im morgendlichen Vogelgesang. Büttner macht gar keine Anstalten, sich zu bewegen. Ich sitze vor dem Zelt, schreibe, koche Kaffee und freue mich über diesen prächtigen Platz.
Plötzlich schreit Büttner nach Kaffee. Den bekommt er. Und was tut er danach? Er erzählt mir von seinem neuen MP3-Player, auf dem er seine halbe Musik-Sammlung mitschleppt. Und die ist gross. Von der will er nun erst ein bisschen hören. Er setzt sich vor die Holzstapel, steckt sie Ohrenstöpsel ein und zieht sich Musik rein. Es gibt Leute, die brauchen Kaffee und Prosac, um wach zu werden. Büttner braucht Kaffee und MP3-Player, um wach zu werden. So trudeln wir rum, packen allmählich und sind überzeugt, dass der beste Weg wohl dort durchgehe, wo die Sonne aufgegangen ist.
Sehr durstig
Es wird schnell sehr heiss, ein leerer Güterschuppen rechterhand, dann wird das Gestrüpp höher, zäher. Wir wandern bis Champagne-sur-Vingeanne, hätten gern was Kühles getrunken, jedenfalls endlich etwas gefrühstückt nach diesem vielen Kaffee vor dem Zelt, aber eine Frau versichert uns glaubwürdig, dass es kein Bistro oder Ähnliches gebe. In Renève sei das nächste. Wir haben noch genug Wasser und Büttner akzeptiert die düstere Botschaft, schaut auf der Karte, ob es einen besseren Weg als den der Landstrasse entlang gebe. Es gäbe einen, aber es wäre ein beachtlicher Umweg, und so trotten wir der Teerstrasse entlang, immerhin beschattet von alten Allee-Bäumen. Man weist uns in Renèves ans Ende des Dorfes. Wir sind sehr durstig, würden gern was essen und wir finden das Restaurant.
Es ist geschlossen und öffnet um halb sechs. Geschlossen also. Das ganze Dorf scheint ausgestorben, unser Wasser geht langsam zur Neige und eigentlich würden wir gern etwas fluchen. Tun wir aber nicht, sondern sitzen im schattigen Gärtchen des ziemlich heruntergekommenen Beizleins, das uns auch in geöffnetem Zustand wenig Freude gemacht, aber immerhin ein Bier und ein Sandwich gebracht hätte. Unsere aufmunternden Sprüche tönen fast ein bisschen verzweifelt, aber Büttner sieht an einem Feldweg ins nächste Dorf einen Etang. Dort könne man baden, vermutet er mit Blick auf die Landkarte.
Ich wage nicht zu sagen, dass diese Etangs hier wenn nicht ausgetrocknet so doch oft sozusagen unzugänglich seien. Dichte Schilfgürtel versperren sie. Einem kleinen Bächlein und Weiden entlang, über frisch gemähte Feldwege marschieren wir und dann biegen wir ein – und leider stimmt meine Vermutung. Da ist kein Etang, kein Weiher. Da war vielleicht mal irgendwann einer. Unverdrossen ziehen wir weiter, zwei junge Rehe erschreckend, dann aber zum Glück in einen Wald hinein, wo wir erst durch einen noch ziemlich feuchten Flusslauf gehen, weil dort noch kein Gestrüpp gewachsen ist. Die Füsse werden schwer von der Erde, die kleben bleibt. Wir steigen wieder hoch, studieren die Karte und sind uns nicht einig, welcher Weg weiter zu gehen sei. Wir nehmen den näheren, er wird enger, dann breiter, biegt nach links, nicht stark, aber spürbar, das Gestrüpp wird dichter, lichtet sich wieder, irgendwo bellen Hunde, der Weg weicht etwas nach links, was uns das Gefühl gibt, uns Essertenne zu nähern, dem Dorf, das wir suchen, um endlich ein Bier zu trinken und ein Sandwich zu essen. Das Gras ist bis auf Brusthöhe gewachsen, Brennnesseln manchmal, irgendwo scheint man eine Strasse zu hören, wir reden nichts mehr, ziehen geradeaus, manchmal leicht nach links, wo Essertenne zu liegen scheint. Dann endlich lichtet sich der Wald.
Eine dichte, halb hohe Hecke vor uns, aber dahinter Wiesen und Felder, Strommasten. Wir haben es bald geschafft. Wir sehen irgendwo ein Auto auf einer Strasse und suchen den Ausgang aus dem Wald. Vor uns plötzlich wieder ein trockener Flusslauf. In trockenen Flussläufen kommt man einfach besser voran als im Gestrüpp eines ungepflegten Waldes, und deshalb steige ich hinunter. Ich sehe, dass vor kurzem auch jemand diesen Weg gewählt haben muss – zwei Spuren in der feuchten Erde.
Seltsame Fussspuren
Mir schwant plötzlich Schreckliches. Ich setze meinen Fuss neben die eine Spur und entdecke, dass mein Schuh das genau gleiche Profil hinterlässt wie der Fuss des Menschen, der hier vor kurzem vorbeigegangen sein muss. Ich bitte Büttner, auch herunterzusteigen, werfe einen verstohlenen Blick auf den Abdruck, den er hinterlässt, vergleiche und: Ja, wir sind es, die vor etwa einer Stunde hier durchgegangen sind.
Es gibt wenig Demütigenderes auf einer solchen Reise als den Umstand, zu erkennen, dass wir mehr Stunden gebraucht haben, um einen grossen Kreis zu drehen und keinen Kilometer weiter gekommen zu sein. Durstig. Hungrig. Wir schweigen, setzen uns kurz, eilen dann der naheliegenden Überlandstrasse zu und marschieren nach Essertenne.
Philemon und Baucis
Dort erfahren wir, dass es keine Beiz gibt. Man hätte auch fluchen können. Es ist halb sechs geworden. Aber Büttner setzt sich einfach hin. Ich packe die leeren Wasserflaschen, gehe ins nächste Bauernhaus – eine Art Philemon und Baucis sitzen beim Nachtessen. Wasser gibt es rechterhand, Philemon bittet mich, die Flaschen zu füllen. Vor allem aber muss ich von seinem Most kosten. Vierjährig, eigenhändig abgefüllt, sechshundert Flaschen im Keller. Baucis steht daneben und grinst. Sie wirkt etwas verwirrt, die Bauersfrau, etwas durchgedreht. Oder anders: Die ist nicht ganz hundert oder ich bin es nicht.
Sie bitten mich, meinen Kameraden zu holen. Büttner trinkt vom Apfelsaft, er findet ihn köstlich, möchte aber auch gehen. Der irre Blick der Baucis macht ihm Angst. Wenigstens haben wir keinen Durst mehr.
Noch sechs Kilometer bis Mantoche – dort soll es Bar und Hotel geben. Langen Schrittes gehen wir einem Kanal entlang und obwohl es nur wenig Wolken hat, eine davon allerdings riesig, beginnt es plötzlich zu blitzen, donnern und regnen. Eine Labsal! Ein Duft, wie dieses Wasser auf dem Teer verdampft. Es tut so gut.
An einer Schleuse steht eine Telefonkabine. Wir wollen vorsichtshalber ein Zimmer in Mantoche reservieren. Doch in Mantoche, drei Kilometer vor uns, gibt es kein Hotel. Büttner fällt in sich zusammen. Ich telefoniere nach Gray – dort gibt es ein Hotel. Wir ziehen los.
Gray, ein heruntergekommenes Siebentausend-Seelen-Städtchen hat tatsächlich ein Hotel, nicht zu teuer. Das Essen sehr währschaft, aber gut, das Städtchen alles in allem doch eher so, dass wir es morgen so schnell als möglich verlassen werden.
(Gray, 23. Juni 2002)