Was, wenn der St. Johannspark gar nicht so harmlos ist wie er auf den ersten Blick aussieht? Der Medienkünstler und Designforscher Jan Torpus von der Fachhochschule Nordwestschweiz hat eine virtuelle Welt über den Park gelegt. So wird die Grünfläche zum Spielplatz für Experimente zwischen den Welten.
Angenommen, unter den Bäumen und zwischen den Sträuchern im St. Johannspark tut sich eine zweite Welt auf, die man nur unter bestimmten Bedingungen sehen und hören kann. Da krabbeln giraffenartig gemusterte Riesenzecken über die Wiesen, rote Rochen mit hellen Bäuchen kreisen in der Luft und verteidigen ihr Revier gegen Besucher. Und die überdimensionale Hand, die im Himmel auftaucht, könnte dem Gott dieses Paralleluniversums gehören. In einen solchen rauschartigen Zustand, in dem sich die Welt aufzulösen scheint und der Himmel bunt wird, gelangt man ganz ohne Drogen. Alles, was es dafür braucht, trägt Jan Torpus bei sich: Sein schwerer Rucksack ist gefüllt mit Technik. Auf dem Laptop starten fünf Programme. Das GPS-Gerät ist zehnmal so gross wie handelsübliche Geräte – misst dafür aber auch auf 10 bis 20 Zentimeter genau. Ein Korrektursender sorgt dafür, dass die Abweichung sogar nur ein bis zwei Zentimeter beträgt. Setzt man die verkabelte Brille mit integriertem Bildschirm auf, legt sich eine virtuelle Welt über die Realität.
Wischmaschine und Quaken
Wer sich das Equipment umschnallt und damit herumläuft, könnte von den Kinderwagenschieberinnen und Pensionären für jemanden gehalten werden, der von Ausserirdischen ausgesetzt wurde. Derjenige aber, der selbst mit Videobrille und Kopfhörern durch den Park flaniert, nimmt die anderen Spaziergänger zwar noch wahr, bewegt sich aber plötzlich in einem virtuell verfremdeten Park. Bänke, Bäume, Wege – alles ist noch da, mal mehr, mal weniger deutlich. Doch zusätzlich zu den Hunden bewegen sich jetzt auch Fabeltiere über die Wiesen. Neben der Wischmaschine, die von der Strasse herüberdröhnt, dringt ein Quaken durch die Kopfhörer, psychedelische Soundarrangements vermischen sich mit Kindergeschrei. Und weil ein Gurt die Atembewegung misst und sie auf die Zweitwelt überträgt, muss man nur kräftig Luft holen, um dem Gras beim Wachsen zuzusehen.
Jan Torpus vom Institut Design- und Kunstforschung an der Hochschule für Gestaltung und Kunst der Fachhochschule Nordwestschweiz, hat sich einiges einfallen lassen, damit der Park auch virtuell zur Spielwiese wird. Dabei war die Idee vor acht Jahren ursprünglich in einer Stube entstanden. «Ein Freund wollte seine Wohnung renovieren, fand aber, es wäre viel einfacher, das Aussehen der Wände zu verändern, indem er eine Brille aufsetzt und eine interaktive Tapete vor seinen Augen erscheinen lässt», erzählt Torpus. Das Projekt living-room war geboren. Seither wurden die Experimente im Spannungsfeld von Augmented Reality und Kunst grösser und aufwändiger. Die Nachfolger, lifeClipper eins bis drei, fanden dann nicht mehr hinter verschlossenen Türen statt – Torpus wollte an die frische Luft.
Zuerst bespielte er das St. Alban-Quartier. Als nächstes kam der Voltaplatz an die Reihe, wobei untersucht wurde, inwiefern Augmented Reality für Stadtplanung, Architektur und Tourismus eingesetzt werden kann. Diese angewandte Forschung, bei der künftige Projekte ebenso sichtbar gemacht wurden wie archäologische Ausgrabungsergebnisse, wurde mit 1,3 Millionen Franken gefördert. Zu den Geldgebern gehörten unter anderen die Kommission für Technologie und Innovation (KTI) sowie Novartis. So konnten Programmierer bezahlt und Material angeschafft werden. Als lifeClipper2 im Jahr 2008 abgeschlossen wurde, bemühte sich Torpus grad wieder um weitere Finanzierungsmöglichkeiten und einen neuen Ansatz: «Wir hatten die ganze tolle Technik, die wollten wir für die künstlerische Umsetzung nutzen.»
Adventure-Game
Bei lifeClipper3 steht der experimentelle Ansatz im Vordergrund. Ein bunt zusammengesetztes Team erarbeitete die Komposition aus Fabelwelt, Sound, Design und Technik. Dabei ist der Park das Interface und der Mensch die Computermaus, die sich über den Spielplatz bewegt und dabei verschiedene Zonen passiert. Diese Zonen sind zum einen geografisch in unterschiedliche Szenarien unterteilt, zum anderen ändert die Szenerie abhängig von der Zeit. Die Bilder, die in die Brille projiziert werden, erinnern an die Ästhetik von Computerspielen und legen sich passgenau über die wirkliche Umgebung. Dazu vermassen die Beteiligten zunächst den Park und legten ein 3D-Modell davon an. Der Richtungssensor in der Brille und das GPS-Gerät ermitteln, wie sich der Besucher im Raum bewegt, so dass Modell und Realität zu jeder Zeit passgenau sind.
Kommen Modell, Realität und Design zusammen, entsteht eine Art Adventure-Game – auch im St. Johannspark lauern in allen Ecken Überraschungen: Nach dem Start des Spaziergangs in der Graswelt wird die Umgebung heller, laute Geräusche wiederholen sich als verfremdetes Echo. Plötzlich taucht eine riesige Hand vor den Augen auf, dann folgt die Ruhe vor dem Sturm. Die Wiese scheint sich in Wellen zu falten. Und wer den Kopf in den Nacken legt, hört wunderbare Musik – bis die Klänge dramatischer werden, ein Sturm über die Landschaft fegt und dunkler Sand sich über die reale Landschaft legt. Spätestens hier bewegt man sich nicht mehr in zwei Welten, sondern ist in der virtuellen Wirklichkeit angekommen. Doch der Effekt funktioniert – wohl auch, weil man bis zu diesem Ereignis schon 20 Minuten Zeit hatte, sich an Umgebung und Ereignisse zu gewöhnen. Zudem schaffen Bäume, Strassenlampen und Bänke Orientierungspunkte.
Trotzdem, es ist kaum möglich, komplett abzutauchen. Dafür müssten die Bilder runder laufen, was aufgrund der beschränkten Rechenkapazität kaum möglich ist. Ausserdem reagiert die Fauna zwar auf Bewegungen, Atem und Verweildauer, doch manche Veränderungen geschehen so unmerklich, dass man sie nur bemerkt, wenn Torpus darauf aufmerksam macht. Auch die Dramaturgie hinter den Stationen bemerkt der Besucher nicht ohne weiteres. Und die kleinen Anspielungen auf «Matrix» oder «Men in black» verpasst man ob der Fülle an visuellen Eindrücken. «Was in der Simulation funktioniert hat, klappt im Feld nicht unbedingt», räumt Torpus ein. Für ihn sei das manchmal frustrierend. Für die nächste Zeit wünscht er sich, übersichtliche Projekte zu entwickeln. Vielleicht wird er sich wieder technisch einfacherer Videokunst zuwenden. Andererseits schliesst Jan Torpus nicht aus, dass es auch eine vierte Version geben könnte. Denn die Möglichkeiten, wie die verfremdete Realität erweitert werden kann, sind verlockend endlos.
Selber erleben: Augmented Reality-Spaziergänge werden am 18., 19. und 20. November kostenlos angeboten. Interessierte können sich auf der Website zum Projekts oder per Mail an Jan Torpus anmelden.