In Locarno werden Geschichten zu Geschichte

Am Filmfestival Locarno wird ab heute Abend das aktuellste Schweizer Filmschaffen gezeigt. Ein Überblick über das reichhaltige Programm. Die Ausstellung «Grosses Kino: Die Schweiz als Film» im Nationalmuseum Zürich erinnert uns aktuell daran, warum wir nach Locarno fahren: Um ein Land im Film zu begreifen. Filme werden zu einer immer wichtigeren Quelle der Geschichtsauffassung. Im […]

Locarno: Noch sind die Stühle leer

Am Filmfestival Locarno wird ab heute Abend das aktuellste Schweizer Filmschaffen gezeigt. Ein Überblick über das reichhaltige Programm.

Die Ausstellung «Grosses Kino: Die Schweiz als Film» im Nationalmuseum Zürich erinnert uns aktuell daran, warum wir nach Locarno fahren: Um ein Land im Film zu begreifen. Filme werden zu einer immer wichtigeren Quelle der Geschichtsauffassung.

Im Tessin eröffnet am Mittwochabend das wichtigste Filmfestival der Schweiz. Während das Landesmuseum mit seiner Ausstellung in die Vergangenheit blickt, widmet sich Locarno der Gegenwart: Hier soll Film in Geschichten verpacken, was dereinst als Geschichte gelten soll. Auf der Piazza Grande kann eine Woche lang besichtigt werden, wie die Schweiz morgen ihre Vergangenheit in den gegenwärtigen Geschichten sehen wird.

Locarno, das Schaufenster der Schweiz

Erst einmal fällt auf, dass Locarno wiederum ein reich bestücktes internationales Programm bietet. Die starke internationale Präsenz zeigt sich in Namen: Der Schwede Lasse Hallström ist ebenso Gast wie der Franzose Tony Gatlif. Der Schauspieler Jason Schwartzman (bekannt aus den Wes Anderson-Filmen «Rushmore», «Moonrise Kingdom» oder «The Grand Budapest Hotel») gibt dem Festival mit seinem neuen Film «Listen Up Philip» die Ehre.

Armin Mueller-Stahl und Agnès Varda wird je ein Ehrenpreis überreicht. Varda für ihr Lebenswerk als «Meisterin des modernen Kinos» (ihr Erstling «La Pointe courte» gilt heute als Meilenstein und prägte die junge Schule der französischen Films). Mit einem «Lifetime Achievement Award» wird Mueller-Stahl ausgezeichnet. Und der spanische Regisseur Víctor Erice («El Espiritu de la colmena», «El Sur») erhält dieses Jahr den «Pardo alla carriera». Damit ist die Preisflut nicht zu Ende: Mia Farrow erhält den Leopard Club Award. Juliette Binoche erhält den Excellence Award Moët & Chandon und ist zu sehen in «Sils Maria», in dem der Basler Gilles Tschudi mitspielt.

Eröffnet wird aber die Piazza Grande mit einem Science-Fiction-Thriller. Luc Besson («Léon – Der Profi», «The Fifth Element») stellt seinen Film «Lucy» mit Scarlett Johansson und Morgan Freeman vor.

Der Wettbewerb wird, wie auch das ganze Festival, von der Konkurrenz des Dokumentarischen mit dem Fiktiven geprägt, das im Programm von Locarno immer mehr zu einem produktiven Nebeneinander wird. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass Locarno im Kreis der Grossen ein eher kleines Festival für gewichtige internationale Produktionen bleibt. Es ist aber auch der innovativen Kraft des Schweizer Filmschaffens geschuldet, in dem der Dokumentarfilm eine immer prominentere Rolle einnimmt.

Im Programm von Locarno finden sich denn auch starke Schweizer Produktionen: Andrea Štaka kehrt nach ihrem Erfolg mit «Das Fräulein» mit ihrem neuesten Werk nach Locarno zurück. «Cure – The Life of Another» ist erneut ein intimer und empfindsamer Blick auf einen Mikrokosmos – noch mutiger und gewagter als «Das Fräulein», mit dem sie in Locarno ausgezeichnet wurde.

So erzählen denn aus der Schweiz dokumentarische wie fiktionale Filme von der vielkulturellen Identität dieses Landes, das im Zentrum Europas ein Laboratorium für europäischen Geist bleibt. Fernand Melgar beschliesst mit «L’abri» seine Trilogie, die denjenigen eine Stimme verleiht, die keine haben: Er dokumentiert einen Ort mit symbolischem Wert – eine Notschlafstelle. Vervollständigt wird die Schweizer Auswahl mit dem Debütfilm von Matthias Huser, «Yalom’s Cure» von Sabine Gisiger und einer Neuauflage des «Homo Faber» von Richard Dindo.

Retrospektive: Die Geschichte Italiens im Film

Auch die Retrospektive orientiert sich am Trend «Wie Geschichten zu Geschichte werden»: Nach Jahren der Autoren-Huldigungen steht für einmal eine Verneigung vor einer der grössten Produktivkräfte des Films an – dem Produzenten. Mit «Titanus» steht eine Produktionsfirma im Zentrum, die sich sowohl dem Unterhaltungs- wie dem Autorenfilm verschrieben hat. Sie bietet wie kaum eine andere ein Spiegelbild Italiens. Durch die Mischung der Genres bietet «Titanus» ein breites Sitten-Bild unsere südlichen Nachbarlandes.

Und Locarno hat noch mehr zu bieten: In der «Semaine de la Critique» ist wieder eine ausgesuchte Sammlung von Dokumentarfilmen zu sehen. Und im «Concorso Cineasti del presente» werden auch Spurensuchen ausserhalb der narrativen Formen präsentiert – in einem eigentlichen Laboratorium der Ideen und Emotionen. Auch dem 3D verschliesst man sich nicht mehr, gleich drei 3D-Filme stehen auf dem Programm: «Adieu au langage» von Jean-Luc Godard, «Young Detective Dee: Rise of the Sea Dragon» von Tsui Hark sowie der jüngste Film von Edgar Pêra, «Lisbon Revisited».

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Filmfestival Locarno, 6. bis 16. August 2014.

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