Als der Film zu Ende ist, offenbart das Publikum, warum es so zahlreich zur Festivaleröffnung erschien. Jetzt sind auch in Locarno die Fans nicht mehr zu halten: Capossela, in Italien einer der ganz Grossen, ist selber gekommen und singt live.
Bevor Capossela, leise, scheu, live singt, rückt uns ein Film seine Suche näher: Andrea Segre hat ihn gemacht, nachdem er mit einem Film über Lampedusa aufgefallen ist. In jenem italienischen Insel-Hafen warten die nordafrikanischen Flüchtlinge zur Zeit darauf, Europa zu betreten. Jetzt ist Segre mit Vinicio Capossela, dem italienischen Cantautore, in einem griechischen Hafen an Land gegangen: Dort, wo vor achzig Jahren eine andere Katastrophe Menschen mit ihrer Musik, dem Rebetika, an Land gespült hat – die Flüchtlinge aus dem griechisch-türkischen Krieg um Izmir.
Wenn Vinicio Capossela über die Bedeutung von «Indebito» sinniert, spielt er mit der Sprache: Bei «verschuldet», sagt er, denke jeder an griechische Schulden. Dabei assoziere «indebito» aber auch «indebiti personali», andere Schuldgefühle, oder gar «verstossene», und schliesslich stehe man auch musikalisch in der Schuld: Griechenland sei die Wiege der europäischen Cantautori wie Homer.
Die Wiege Europas in den Schuldenbergen
Dann dringt Segre mit Capossela in diese Wiege Europas ein – aber nicht von der glänzenden Oberfläche her: Es begibt sich auf eine eine Fahrt durchs Armenhaus Europas. Verödete Hafenlandschaften, prachtvolle Sonnenuntergänge hinter Schrotthaufen. An jeder Mauerfläche schreien Graffiti um Hilfe oder rufen nach Würde. Heruntergokommen in diesem Randgebiet Europas hat der musikalische Vagabund Capossela nach Tom Waits erneut Seelenverwandte gefunden: Die rebellische Musik der Re(m)betikos.
Segres Film öffnet in seinen Bildern, was die Musik besingt: Er liefert verlorene Nächte, dringt in die besungenen Winkel der Tavernen, schwenkt über verlassene Kneipentische. Als Führer durch die musikalische Welt lässt sich Capossela selber führen: Mit seiner kleinen Minimandoline, die auf türkisch ‚Irrtum‘ heisst, sucht er, wie von einer Wünschelrute geführt, nach verlorenen Wasseradern.
Die Taverne ist wie eine Barrikade gegen den Strom
Der Film «Indebito» ist nicht eine Liebeserklärung an die griechischen Strände, sondern an die Gestrandeten und ihre Würde. «Indebito» begleitet Caposella auf der Suche nach einer europäischen Form des Blues, nach der Würde des Menschen, die sich hier in der Tat als unantastbar erweist: Wenn etwa Keti Dali, das Urgestein des Rebetiko-Gesanges über ihre Liebschaften mit Mafiosi ebenso freizügig erzählt, wie sie dann auch singt. Segre führt uns vor Augen, dass in Griechenland nicht nur Banken gerettet werden können.
Als der Film zu Ende ist, offenbart das Publikum, warum es so zahlreich hier ist. Jetzt sind auch in Locarno die italienischen Fans nicht mehr zu halten: Capossela, in Italien einer der ganz Grossen, ist selber gekommen, lässt seinen griechischen Musikern den Vortritt. Er flicht nur hin und wieder, fast scheu, etwas von seiner Poesie in die Rebetikos, singt ein paar Verse von Fabrizio de Andre dazwischen und begleitet sie auf seiner Mandolinenmuschel. Vergessen ist die Festivaleröffnung: Jetzt herrscht Tavernen-Groove. Capossela verweigert sich der grossen Geste. Keine Lightshow, kein Bassstampfen, keine Nebelschwaden vor Laserfingern. Nur scheue Musiker, die nach Worten suchen. Die Verbliebenen Liebenden im Publikum geniessen es.
Auf dem neuen Album: Rebetiko Gymnastas