Ein Jahr nach dem mysteriösen Vierfachmord von Annecy konzentrieren sich die französischen und britischen Ermittler auf drei zentrale Spuren. Neben den Hinweisen auf zwei mögliche Erbstreitigkeiten in der Familie wird auch dem Verdacht der Industriespionage als Mordmotiv nachgegangen.
Das sagte der Staatsanwalt im ostfranzösischen Annecy, Éric Maillaud, am Freitag. Er sprach von «grossen Fortschritten» bei den Ermittlungen.
Monatelang waren die Ermittler in Frankreich und Grossbritannien im mysteriösen Fall im Dunkeln getappt. Mit Kopfschüssen waren der aus dem Irak stammende Brite Saad al-Hilli, seine Frau Ikbal, deren Mutter und ein vermutlich zufällig vorbeikommender französischer Velofahrer am 5. September 2012 auf einem Waldparkplatz bei Annecy regelrecht hingerichtet worden. Die beiden kleinen Töchter der al-Hillis überlebten die Bluttat.
Die in London ansässigen al-Hillis machten in der Region Ferien. Vater Saad al-Hilli arbeitete als Ingenieur im sensiblen Luft- und Raumfahrtsektor, der französische Velofahrer für eine Nuklearfirma in Frankreich. Gefunden wurden die Leichen von einem britischen Ex-Soldaten, der in der Gegend mit seinem Velo unterwegs war.
Bruder unter Verdacht
Erst im Juni hatte die britische Polizei den bei London lebenden Bruder Zainad al-Hilli wegen des Verdacht der Beteiligung an einem Mordkomplott festgenommen. Der Bruder kam wenig später wieder frei, muss sich aber zur weiteren Verfügung der Polizei halten.
Staatsanwalt Maillaud sagte nun, den Hinweisen zu dem Bruder werde weiter «aktiv» nachgegangen. Der britische Ermittler Nick May fügte bei der gemeinsamen Medienkonferenz hinzu: «Zaid al-Hilli ist ein erklärter Verdächtiger.» Er werde nach wie vor befragt.
Maillaud verwies aber auch auf die Möglichkeit, dass Familienmitglieder im Irak beide Brüder wegen des Familienerbes beiseite schaffen wollten. Der 2011 verstorbene Vater der Brüder besass in Bagdad Immobilien, die seine Söhne als Erben für sich beanspruchten. Zudem hatte der Vater auf einem Schweizer Konto fast eine Million Euro liegen.
Waren Geheimdienste im Spiel?
Erstmals ging Staatsanwalt Maillaud aber auch ausführlich auf den Verdacht der «Industriespionage und des Technologietransfers» ein. «Saad al-Hilli hatte in seinem Besitz viel mehr Daten als es allein seine Arbeit gerechtfertigt hätte», sagte er.
Nach bisherigen Informationen der Staatsanwaltschaft haben diese Informationen aber keinen Marktwert. Saad al-Hilli arbeitete demnach für eine auf zivile Satelliten spezialisierte britische Firma, die für zahlreiche ausländische Staaten tätig ist.
«Wenn ausländische Staaten und Industriespionage genannt werden, dann kann das auch auf den Einsatz von Geheimdiensten hindeuten», fügte der Staatsanwalt hinzu. Dieser Teil der Ermittlungen sei «extrem komplex», werde viel Zeit brauchen und womöglich nie zu etwas führen.