Jagd durch die Instanzen: Vom Schicksal einer Krankgeschriebenen

Zum Schicksal einer Krankgeschriebenen aus dem Blickwinkel des Psychiaters. Und warum das Bedingungslose Grundeinkommen für diese Patienten ein Segen wäre. Vor dem Hintergrund der im Oktober 2013 eingereichten Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen möchte ich als Psychiater meine Erfahrungen mit der «Krankschreibung» in der Form einer Geschichte mit einer fiktiven Patientin mit Ihnen teilen und […]

Zum Schicksal einer Krankgeschriebenen aus dem Blickwinkel des Psychiaters. Und warum das Bedingungslose Grundeinkommen für diese Patienten ein Segen wäre.

Vor dem Hintergrund der im Oktober 2013 eingereichten Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen möchte ich als Psychiater meine Erfahrungen mit der «Krankschreibung» in der Form einer Geschichte mit einer fiktiven Patientin mit Ihnen teilen und dabei ein Argument für die Initiative bringen.

Von der Chefin gemobbt 

Ich nenne sie Anna Meier. Sie kam zu mir, weil sie sich gemobbt fühlte und mein Name auf der Website der Mobbingzentrale Schweiz steht. Sie verkaufte seit Jahren Gemüse als angelernte Verkäuferin in einer Filiale eines grossen Detailhändlers und hatte eine autoritäre Chefin, die ihr das Leben schwer machte. Schon vor zehn Jahren gab es mit dieser Chefin eine Krise, die sogar zu einem traumatisierenden Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik geführt hatte.

Anna Meier hatte Medikamente bekommen, die ihr aber laut eigenen Angaben nicht gut getan hätten, und sie hatte sich in den wenigen Gesprächen mit den Ärzten gar nicht verstanden gefühlt. Anschliessend war sie drei Jahre in einer Psychotherapie bei einer Psychiaterin, die alle ihre Probleme auf ihre zugebenermassen schwierige Kindheit zurückführte. Eine Hilfe für den Alltag im Geschäft war diese Therapie aber nicht.

Jetzt war es wieder so weit: Anna bekam schon Herzrasen und ein Ameisengefühl in beiden Händen, wenn sie die Chefin nur sah. Sie konnte nicht mehr einschlafen, hatte keinen Appetit mehr und zu nichts mehr Lust. Sie war schon beim Hausarzt gewesen, der ihr Antidepressiva verschrieben hatte, die sie aber nicht vertrug. Ich stellte eine depressive Reaktion auf die Schwierigkeiten am Arbeitsplatz fest, setzte im Einvernehmen mit ihr die Antidepressiva schrittweise ab und schrieb sie krank.

Die Krankschreibung

Frau Meier schickte ihrer Chefin die Krankschreibung. Diese leitete das Schreiben der Personalabteilung der Firma weiter, welche mir darauf ein Formular ihrer Taggeldversicherung schickte, das ich zu Handen des Versicherungsarztes ausfüllte.

Inzwischen war ein Monat vergangen. Ich hatte Frau Meier jede Woche gesehen. Es ging ihr nicht gut. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, war sich aber sicher, dass sie keine Medikamente einnehmen und sicher nicht in die Klinik eingewiesen werden wollte. Ich verstand das, hörte sehr viel zu und machte ihr Mut, nur zu tun, was ihr ihrer Meinung nach gut tun würde. Weil die wöchentlichen Gespräche aber zu wenig waren, wies ich sie statt einer Klinik in ein Kurhaus ein, wo sie vier Wochen weilte. 

Das Case/Care-Management

Inzwischen war die Taggeldversicherung, die ihr nach einer gewissen Schonzeit den Lohn zahlen musste, nicht untätig geblieben. Sie schickte Frau Meier eine Case (Fall)-Managerin, die sie zu Hause besuchte, sich die ganze Geschichte erzählen und dabei durchschimmern liess, dass sie meinen Arztbericht gelesen hatte. Frau Meier war nach diesem Besuch fixfertig und brauchte am anderen Tag einen Extratermin bei mir.

Dies ist keine seltene Erfahrung. Diese Versicherungsmitarbeiter, neu auch Care (Sorge)-Manager genannt, haben keine therapeutische Ausbildung, vertreten nur die Interessen der Versicherung und stören oft therapeutische Prozesse, die beim Psychiater laufen.

Zurück am Arbeitsplatz

Unter Druck der Case-Managerin besprach Frau Meier mit mir eine Rückkehr an den Arbeitsplatz. Nach ca. drei Monaten 100-prozentiger Arbeitsunfähigkeit probierte sie, mit einem Pensum von 50 Prozent wieder zu arbeiten. Es dauerte aber kaum eine Woche, bis sie zusammengebrochen zu mir in die Praxis kam. Es gehe einfach nicht. Sie hatte Angst- und Panikzustände und musste öfter erbrechen. Ich schrieb sie wieder zu 100 Prozent krank.

Inzwischen hatte ich Kontakt mit der Firma aufgenommen. Vielleicht wäre auf der zwischenmenschlichen Ebene etwas zu erreichen? Es kam darauf zu einem Gespräch mit der Personalverantwortlichen, welche die Chefin vertrat, der erwähnten Case-Managerin, einer Vertreterin der Invalidenversicherung, die auch eine Anmeldung erhalten hatte (ist obligatorisch), mit Frau Meier und mir. Ich machte den Vorschlag, dass Frau Meier in eine andere Filiale der Firma versetzt würde und zwar anfänglich zu 50 Prozent. Die Personalverantwortliche ging leider nicht darauf ein, sondern kündigte sie.

Die Kündigung

Eine Firma kann eine krankgeschriebene Person kündigen, wenn eine gewisse Schonzeit überschritten ist. Die Patientin war immer noch zu 50 Prozent krankgeschrieben und es war nicht klar, ob die Taggeldversicherung einen entsprechenden Beitrag zahlen würde oder ob nicht das Arbeitsamt zuständig wäre. Sie musste den Vertrauensarzt der Versicherung besuchen, der zwar meinen Befund bestätigte, über die Zuständigkeit der Versicherung aber keine Klarheit brachte. Erst eine Intervention eines Anwaltes brachte Klarheit. Die Versicherung musste zahlen.

Die IV

Inzwischen musste ich der Invalidenversicherung (IV) einen ausführlichen Bericht schreiben. Die IV hatte Frau Meier inzwischen einen Coach zur Seite gestellt, der ihr helfen würde, sich irgendwo anders zu bewerben. Dieser empfahl ihr aber, sich zu 100 Prozent krankschreiben zu lassen. Sie könne nur in einem geschützten Rahmen arbeiten. Ich schrieb sie darauf zu 100 Prozent arbeitsunfähig.

Doch in die Klinik

Frau Meier ging es weiterhin nicht gut. Sie hatte einfach keine Kraft mehr und war mit den vielen Bezugspersonen von Seiten der Taggeldversicherung, der IV und in ihrem Fall auch von ihrer Kirche überfordert. Sie war alleine in ihrer Wohnung und fühlte sich einsam. Ich wies sie darauf in eine private psychiatrische Klinik ein, wo gut auf ihre Situation eingegangen wurde und ihr eine Tagesstruktur vermittelt wurde, die ihr half, jeden Tag zu meistern. Die Klinik schrieb der IV ebenfalls, dass sie zu 100 Prozent arbeitsunfähig war. Die IV liess darauf ein Gutachten bei einem anderen Psychiater machen, was schliesslich zur Berentung führte.

Zurück zur Initiative

Mit einem Grundeinkommen wäre Frau Meier trotzdem gemobbt worden. Sie hätte es aber ohne Belastung der zahllosen versicherungsbedingten Abklärungen etwas einfacher gehabt und ich hätte nur Therapeut sein können und keine Berichte schreiben müssen.

Piet Westdijk stösst bei uns ausserdem eine Debatte an zum Interessenskonflikt, in den Ärzte zwischen Versicherungen und Patienten geraten: «Ein Arzt soll dem Patienten, dienen nicht der Versicherung» Diskutieren Sie mit!

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