Nach Tiefencastel erwandere ich Dörfer, die ich nur vom Hören her kannte, lausche einem Klavierkonzert und treffe im Mondschein in Bivio ein.
So, nun geht es definitiv südwärts. Gestern Abend fuhr ich von Tiefencastel zurück nach Zürich, Moni und ich haben einen schönen Abend verbracht und heute früh wieder nach Tiefencastel, wo ich gestern Abend angekommen war. Um halb elf zog ich erst mal ein paar Meter auf der alten Julierstrasse los und bog dann ab nach Mon, wo ich noch nie war. Bin Dutzende von Malen an dieser Abzweigung vorbeigefahren, hab das Dörfchen dort oben mit der markanten Kirche immer wieder gesehen. Und nun stieg ich über einen schmalen, steilen Pfad hinauf, unter zunehmend grauerem Himmel, über Weiden, Waldwege und stand vor einer alten Kirche, hinter der sich das Albulatal auftat.
Da oben gibt es weder Wanderwege noch Skipisten, das Dorf ist still und bäuerlich, keine miefigen Ferienhäuschen. Es ist einfach still und Sonntag. Sonntag mit heranziehendem Regen. Ich wanderte über eine Anhöhe, der Regen fiel dichter, ich warf die Pellerine über und kam nach Salouf. Ebenfalls ein Dorf, das ich schon oft gesehen hatte von der Passstrasse, die auf der anderen Seite unzähligen von Autos, Cars und Wohnwagen den Weg wies. Bin immer auf der anderen Seite durchs Oberhalbstein, hatte allenfalls Blicke übrig für diese Seite, wo auch eine der ersten künstlich beschneiten Skipisten bei Savognin gebaut wurde irgendwann in den 70-er Jahren.
Konzertprobe
Es ist mir nie besonders schön vorgekommen, dieses Oberhalbstein. Allein Savognin, das frühzeitig verschandelte Ski-Touristendorf mit seinen Hühnerställen für Billigtourismus war immer nur ein Druck aufs Gaspedal wert. Doch hier drüben, so wenig Meter neben der Durchfahrtsstrecke eigentlich, erkenne ich ein sehr warmes und heimeliges Gebiet. In Riom etwa, von wo eine mächtige mittelalterliche Burg ins Tal schaut, hörte ich Klaviermusik. Bin den Tönen nachgegangen und in eben dieses dominierende Gebäude hinein getreten. Eine Pianistin war am Üben für ein Konzert am Abend. Es war rührend und ergreifend. Vielleicht bin ich etwas lange in der dämmrigen Burg gestanden. Die Klavierspielerin unterbrach ihre Probe, kam zu mir hin, erzählte, wie die Finger von der Kälte klamm würden und lud mich zum Konzert am Abend ein. Doch ich sagte, am Abend sei ich schon an einem anderen Ort.
Ich musste dann doch durch einen Teil von Savognin hindurch, bin – etwas müde vom Dauerregen – kurz eingekehrt, in eine neues, aber durchaus geschmackvolles Restaurant. Wenig Leute, nur Einheimische, die sich liebevoll um einen Siebenundneunzig-Jährigen kümmerten, der aus seinem Leben erzählte. Dann wieder in den Regen, über Wiesen an Tinizong vorbei, an einem Gebäude der Zürcher Elektrizitätswerke und dann hinauf durch den Wald nach Rona.
Wieder mal verirrt
Dieser Flecken Erde meint es nicht gut mit mir. Vor anderthalb Jahren hab ich nachts um elf in einem Schneesturm Ketten montieren müssen, als ich nach einer anstrengenden Woche für ein langes Wochenende ins Bergell fuhr. Heute hab ich mich im Aufstieg nach Rona verlaufen, elend im wilden Wald, der durch gestürzte Bäumen fast ungangbar geworden ist, habe mich verirrt. Stand dann doch plötzlich auf einem Weg, zog los und erreichte gegen halb fünf Rona. Nahm mir Bivio als Ziel vor, schnallte mir die Kopfhörer wieder mal an, liess Van Morrison singen und nahm die Ebene nach Mulegns in Angriff.
Zwischen Mulegns und dem Stausee dann die Strecke, die ich beim Vorbeifahren seit Jahren mit der Sehnsucht anschaue, hier würd ich gern mal auf einer grösseren Reise zu Fuss hinaufgehen. Hab immer diese Wiese oberhalb Sur betrachtet und gedacht: Da musst du wohl durch.
Und heute ging ich durch. Westlich an einem Wachtturm vorbei, den ich noch nie gesehen habe. Der Fussweg hinauf zum Marmorera-Staudamm führte durch dichten Wald, und als ich oben auf dem Staudamm stand, brach erstens die Sonne hervor, schon ziemlich weit im Westen, schon ziemlich nah am Horizont.
Licht und weit
Der Rest, das wusste ich, war Marschieren. Dem See entlang und dann hinauf nach Bivio. Es war ein Durchbeissen – doch eine Weile lang war es auch eine Verheissung. Hinter dem Wald, hinter dem sich Bivio verbarg, sah ich einen Weg einen Hang emporführen. Darüber ein feines Himmelsblau, nicht so stark wie grad vor mir, ganz licht und weit.
Der Weg führt zum Septimer, dahinter zeigt sich der Himmel des Südens, Italiens. Meine letzte Etappe naht. Aber die Strecke nach Bivio ist lang, länger als der Tag jedenfalls.
In Bivio ist Nacht, der Mond am Himmel. Etwas ausserhalb des Dorfes rolle ich den Schlafsack aus. packe mein Notebook aus und schlafe während des Schreibens ein. Einmal, Zwei Mal.
(Bivio, 22, Juli 2002)