Kein Film zum Wegschauen

Wir sind geübt im Wegschauen. Kinogänger entwickeln darin besonders viel Routine: Wer Schlimmes auf sich zukommen sieht, schliesst einfach die Augen. Jetzt können sie mit offenen Augen sitzen bleiben und geniessen: Im Stadtkino. Der begnadete Geräuschemacher Gilderoy wird nach Italien eingeladen. Er soll dort in den «Berberian Sound Studios» einem italienischen Meisterregisseur beim Vertonen von […]

Wir sind geübt im Wegschauen. Kinogänger entwickeln darin besonders viel Routine: Wer Schlimmes auf sich zukommen sieht, schliesst einfach die Augen. Jetzt können sie mit offenen Augen sitzen bleiben und geniessen: Im Stadtkino.

Der begnadete Geräuschemacher Gilderoy wird nach Italien eingeladen. Er soll dort in den «Berberian Sound Studios» einem italienischen Meisterregisseur beim Vertonen von dessen neuestem Werk helfen. Peter Strickland hat eine kleine Hymne auf die Tonmeister und Geräuschzauberer des Films gedreht. Ein Juwel unter den Hörperlen.

«Berberian Sound Studios» hat aber mehr als einen doppelten Boden: Gilderoy hat ein grosses Herz für Film und empfindliche Ohren: Es entgeht ihm nicht, dass der Film, den er da vertonen soll, zu den «Giallo» gehört, jenen Billighorror-Filmen, die zu jener Zeit in Italien produziert wurden.

Ehe Gilderoy sich versieht, ist er dank seiner umwerfenden Geräuschkulisse mitten in einem «Giallo». Was Strickland um ihn herum geschehen lässt, ist bald mehr als nur ein geniales Spiel mit Schein und Täuschung. Strickland entwickelt mit raffinierten Mitteln ein kleines Kompendium des Sounddesigns.

Die zauberhafte Welt der Geräuschkulisse

Toby Jones – er spielte in «The Girl» auch schon mal Hitchcock – lässt sich von der Geräuschkulisse mehr und mehr in die Horror-Geschichte hineinziehen. Er entwickelt in seiner Geräuschküche Sounds, die bald Luciano Berios «Inferno» ebenso Ehre machen wie einem modernen Horrorfilm. Das Geniale daran: Man will nicht wegschauen. Im Gegenteil. Ja nichts verpassen. Wir wollen bei jedem Geräusch hinschauen und wissen, wie es gemacht wird!

Darüber hinaus hat das Gehör eine weitere fatale Eigenschaft, mit der Strickland raffiniert spielt: Wenn wir erst einmal glauben, etwas zu hören, hören wir es immer wieder. Die britische U-Boot-Abwehr litt im 2.Weltkrieg immer wieder unter dem Phänomen. Wenn erst einmal jemand das Wort «Torpedo» im deutschen Funkspruch gehört hatte, hörten es andere auch und das immer wieder! Ja, sie konnten gar nichts mehr anderes hören! Die Fans der Beatles haben Pauls Stimme sogar rückwärts erkannt, immer und immer wieder. Wir wissen ausserdem spätestens, seit wir als Kinder mit Kokoshälften klapperten, dass wir dabei Pferde hören. Oder beim Kabis-Schneiden das Massaker an einem Zombie… Unser Ohr ist nämlich beharrlicher im Hinhören als unser Auge im Hinschauen.

Strickland spielt souverän mit den Mitteln des «Giallo». Wenn Gilderoy etwas in seinen Tomatensaft mixt, produziert Gilderoy damit gleichzeitig einen «Kettensägensound». Kein Wunder also, dass ihm dabei der Deckel aus der Halterung springt, der Tomatensaft ins Gesicht spritzt. Wenn es jetzt noch an der Haustür klingelt, wollen wir fast schon wieder wegschauen! Wir müssen aber nicht: Nichts von all dem Horror müssen wir sehen. Nur vor Augen führen lassen, wie die Kombination von Gehörtem und Gesehenem uns präsentiert wird. Immer intensiver blinkt das «Silenzio»-Rotlicht. Immer spannender sind die Geräuschkulissen.

Wer will schon immer hinschauen?

So üben wir uns nicht im Wegschauen. Kinogängerinnen entwickeln normalerweise gerade darin Routine: Wer im Kino Schlimmes auf sich zukommen sieht, schliesst reflexartig die Augen. Die wenigsten sehen in Horrorfilmen den Horror. Sie hören ihn bloss.

Wer normalerweise dem Horror durch Wegschauen entkommen will, unterliegt einem Trugschluss: Die Fantasie hat die Fähigkeit, das Entsetzliche vor unserem inneren Auge weiterzuspinnen – in erträglicher Dosis. Genau die Seh-Dosis wird allerdings von unserem Ohr verhängnisvoll ergänzt. Wer wegschaut, lauscht genauer!

Den Filmemachern ist das nicht entgangen: Sie haben es sich zunutze gemacht, dass Zuschauerinnen wegschauen, nicht aber weghören können. Spätestens seit der Duschvorhangszene in Hitchcocks «Psycho» wissen wir, wie es klingt, wenn wir am Weghören gehindert werden sollen.

Nun hat Peter Strickland just aus all jenen Augenblicken, wo wir, dank Wegschauen, genauer lauschen, einen Film gemacht – zum Hinhören! Das Geniale daran: Man will nicht wegschauen. Im Gegenteil. Wer in Zukunft etwas entspannter im Kino sitzen will, sollte dieses Hör- und Seh-Erlebnis nicht verpassen. Wir sollten es ohnehin wieder öfter tun: Hinschauen!

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Der Film läuft in der Reihe ‚Bon Film‘ im Stadtkino.

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