Die Kritik an den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) hört nicht mehr auf. Der Grund dafür ist einfach: Wenn die Behörde entscheidet, ist immer eine Partei unzufrieden.
Tim Egger* meldet sich per E-Mail. Er habe eine Geschichte zur Vormundschaftsbehörde, die ein neues Licht auf die laufende Debatte werfe. Ich treffe ihn bei einem Bier, er spricht besonnen, macht kurze Pausen.
Vor einigen Jahren hat er sich von seiner Ehefrau getrennt. Sie wollte mit den gemeinsamen Kindern nach Spanien auswandern, er wollte die Kinder bei sich behalten. Schliesslich entschied die Vormundschaftsbehörde (damals noch nicht die Kesb), die Frau dürfe ausreisen, die Tochter müsse in der alten Wohnung bleiben, bis sie das Schuljahr abgeschlossen hat.
Ein Rosenkrieg
Egger nimmt einen Schluck von seinem Bier. Er fühlt sich bis heute ungerecht behandelt – auch deshalb will er seine Geschichte publik machen.
Sein Fall ist schlüssig, er redet überzeugend, kann alles mit Akten belegen und hat sogar Tonaufnahmen mitgebracht. Ich habe keine Zweifel am Wahrheitsgehalt seiner Aussagen und bin kurz davor, die Geschichte zu schreiben.
Noch bevor ich zum Hörer greife, um die Beteiligten zu befragen, wird mir klar: Wenn ich seine Ex-Frau nach dieser Geschichte frage, höre ich eine ganz andere Geschichte. Auch die Vormundschaftsbehörde hätte eine ganz andere Version zu erzählen.
Am Ende ist es ein Rosenkrieg, ein Konflikt zwischen zwei zerstrittenen Eltern und einer Behörde, die vor allem die Kosten im Blick hatte. Ein Gefilde, auf das man sich als Journalist nicht gerne begibt.
Behörde darf sich nicht äussern
Und doch trifft man in der Zeitung fast täglich auf Einzelfälle, die die Kesb ins Visier nehmen. Kein Wunder gibt es diese Fälle: Wenn die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) entscheidet, hinterlässt sie immer mindestens eine unzufriedene Partei – häufig sind auch beide Elternteile unzufrieden und die nahen Verwandten sowieso.
Das Kesb-Bashing sei im Moment hoch im Kurs, sagt die Präsidentin der Kesb Birstal, Jacqueline Frossard. An der aktuellen Debatte stört sie, «dass häufig nur Einzelfälle zitiert werden, die eine sehr einseitige Sichtweise verbreiten». Schliesslich darf sie sich als Behörden-Vertreterin nicht zu den konkreten Vorwürfen äussern.
Von diesen Einzelfällen ausgehend die Abschaffung der Kesb zu fordern, sei «absolut unverhältnismässig». Schliesslich behandelt allein die Kesb Birstal etwa 1000 Fälle pro Jahr.
Kaugummi kauende Sozialarbeiter
Was wird der Behörde vorgeworfen? Die Kritik lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: zu teuer, zu bürokratisch und zu viele Fehlentscheide.
Zum ersten Punkt: Dass die Behörde teurer ist als die vorherige Laienbehörde, ist keine Überraschung. Die Gesetzesänderung zur Kesb wurde im Parlament mit überwältigender Mehrheit beschlossen. Und in Bundesbern wussten alle, dass die Professionalisierung mit Mehrkosten verbunden ist.
Das Problem nun liegt darin, dass die Gemeinden die Kosten nicht tragen wollen und teilweise auch nicht tragen können.
In Baselland gibt es heute sechs Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb). Vor der Einführung 2013 hatte fast jede Gemeinde ihre eigene Vormundschaftsbehörde und konnte somit auf die Kosten Einfluss nehmen.
Die Kesb Baselland ist in sechs Bezirke aufgeteilt: Laufental, Leimental, Birstal, Liestal, Frenkentäler und Gelterkinden-Sissach. (Bild: Screenshot/Kesb BL)
Heute entscheidet die Kesb, die Rechnung bezahlen dann Kanton und Gemeinden. Der Kampf um die Kosten ist deswegen in erster Linie ein Kampf um Gemeindeautonomie und Mitbestimmung des Bundes.
Zur Bürokratie: «Schreibtisch-Täter» werden die Sozialarbeiter genannt, die Kesb sei nicht nahe genug an den Klienten, es gebe keinen Kontakt mehr zu den Gemeinden. Dieser Vorwurf hält einer genauen Prüfung nicht stand.
In der Regel finden die Abklärungen, ob etwa eine Kindesgefährdung vorliegt, auf lokaler Ebene statt. Das heisst: Die Kesb beauftragt in den meisten Fällen zuerst den Sozialdienst der Gemeinden, einen Bericht zu einem Kind zu erstellen. Erst dann kann die Kesb eine Massnahme verfügen.
Zu den Einzelfällen: Die Basler Schriftstellerin Zoë Jenny erhält laut eigenen Aussagen über hundert Zuschriften von gehässigen Eltern – und das pro Tag («Arena» vom 17.10.2014). Sie selbst führt einen Kampf gegen die Kesb, der bereits eine politische Dimension angenommen hat.
In der «Weltwoche» schilderte sie ihre Erlebnisse mit der Behörde unter einem Pseudonym. Bei der Lektüre stehen einem die Haare zu Berg: Kaugummi kauende Sozialarbeiter, Machtspiele zwischen Behörde und Mutter. «Das kann doch nicht wahr sein», schiesst es einem durch den Kopf.
Nur selten Kindesentzug
Sind die Probleme wirklich so gravierend, wie es Jenny formuliert? Flavia Frei von der Stiftung Kinderschutz Schweiz relativiert die Vorwürfe. Grundsätzlich gebe es kaum Probleme mit unqualifiziertem Personal. «Wie in vielen Bereichen gibt es aber sicher auch im Einzelfall Optimierungspotenzial.»
Weiter sagt sie: «Ich fände es auch abstossend, wenn jemand im Gespräch Kaugummi kauend vor mir sitzen würde. Das hat aber nichts mit dem System zu tun.»
Es kommt relativ selten vor, dass die Kesb einen Kindesentzug anordnet. Im Jahr 2012 gab es – noch unter der alten Vormundschaftsbehörde – 1115 Obhutsentzüge; juristisch korrekt als «Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts» benannt. Nur in 54 Fällen wurde eine komplette «Entziehung der elterlichen Sorge» entschieden, bei der die Eltern das Kind nicht mehr sehen dürfen.
Vom Einzelfall zum Ganzen
Bis ein Obhutsentzug stattfindet, muss einiges passieren. Gewalt, sexueller Missbrauch oder massive Vernachlässigung sind Gründe, die dazu führen können. Und selbst dann ist das Ziel immer noch, die Bindung zu den Eltern aufrechtzuerhalten.
Bei den Einzelfällen, die durch die Presse gereicht werden, bleibt ein schaler Beigeschmack. Die Fälle sind vielschichtig, für Aussenstehende und selbst für beteiligte Profis sind sie schwer zu verstehen. Das war bereits bei der alten Vormundschaftsbehörde so – Kindesschutzfälle sind immer strittig.
Ich schreibe Tim Egger eine E-Mail. Wir können seine Geschichte nicht in dieser Art und Weise publik machen. Vom Einzelfall auf das Ganze schliessen – das funktioniert bei diesem komplexen Thema nicht.
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* Name geändert.