Für die Kommentatoren in den Schweizer Zeitungen ist nach dem Nein zur Einheitskrankenkasse klar: Das Stimmvolk will keine radikalen Experimente im Gesundheitswesen. Noch nicht. Doch das könnte sich ändern.
Das Nein zeige, dass das «Misstrauen gegenüber einem fiktiven staatlichen Krankenversicherer noch grösser sei als gegenüber den real existierenden Kassen», schreibt der Kommentator in den Zeitungen «Tages-Anzeiger» und «Der Bund» vom Montag. Die Vorstellung, einer Krankenkasse ausgeliefert zu sein, hätte abschreckend genug gewirkt, um am System festzuhalten.
Positiv formuliert es die «Berner Zeitung»: Die Schweizer seien «ganz offensichtlich zufrieden mit dem, was ihnen das Gesundheitssystem an Service und Qualität» biete. Trotz steigender Prämien sei der Leidensdruck nicht hoch genug, um eine Mehrheit für das «Experiment einer Einheitskrankenkasse» zu gewinnen.
Jetzt muss sich erst recht etwas verändern.
Kommentar der TagesWoche
Auch hätte die Behauptung der Initianten, eine Einheitskasse werde «die Prämienexplosion» stoppen, nicht verfangen. «In dieser Hinsicht war die Initiative nicht einmal ein Placebo, sondern eine Mogelpackung», kommentiert das Nachrichtenportal watson.
Ein weiterer Grund für das Scheitern ist laut der Kommentatorin der «Neuen Luzerner Zeitung» der Blick der Stimmbürger über die Landesgrenzen hinaus (nicht online). Im Ausland hätten sie gesehen: «Staatliche Gesundheitssysteme sind meist nicht das Gelbe vom Ei.»
«Keinen radikalen Systemwechsel»
Die Stimmbürger wünschten keinen radikalen Systemwechsel, schreibt die «Neue Zürcher Zeitung». «Sie setzen vielmehr auf schrittweise Anpassungen des geltenden Systems.» Die Kommentatorin fordert diese von der Politik in Form von kostendämpfenden Massnahmen ein und warnt: «Ein Systemwechsel, der schon jetzt mehr Stimmen fand als noch vor sieben Jahren, könnte sich andernfalls auch einmal durchsetzen.»
Die Abstimmungssieger in die Pflicht nimmt auch die «Basler Zeitung». Sie müssten Reformvorschläge auf den Tisch legen und auch heisse Eisen anpacken. Dazu gehörten als Kostentreiber die Kantone und die Ärztezunft. «Nichtstun wäre eine Einladung für die nächste Verstaatlichungs-Initiative von links.»
Und bei einer solchen, so prophezeit der «Blick», könnte es knapp werden, wenn es mit den Prämienerhöhungen weitergehe wie bisher. Der Rückhalt für die Krankenkassen schwinde nicht nur bei den einzelnen Stimmbürgern, sondern auch in den Kantonen. «Das müsste den Krankenkassen und ihren Lobbyisten im Parlament schon zu denken geben.»
«Positive Lehre»
Eine «durchwegs positive» Lehre sieht die Kommentatorin der Zeitung «Nordwestschweiz» im Abstimmungsresultat. «Initiativen lancieren bedeutet nicht nur Abstimmungen gewinnen.» So seien die unterlegenen Befürworter der Einheitskrankenkasse «die eigentlichen Gewinner». Sie hätten unter dem Druck der bevorstehenden Abstimmung Erfolge im Parlament verbuchen können, «die vor zwei Jahre noch ins Reich der Träume verwiesen worden wären».
Die Idee einer kantonalen Einheitskasse dagegen, wie sie nach dem Nein an der Urne am Sonntag vor allem in der Westschweiz aufkam, sei «untauglich», schreibt der Kommentator im «St. Galler Tagblatt». «Der Bund würde damit die Büchse der Pandora öffnen.» Denn Begehrlichkeiten zur kantonalen Umsetzung anderer Volksentscheide könnten laut werden.
Das sehen auch die Westschweizer Kommentatoren so. Für ein solches Vorgehen bräuchte es den Segen des Parlaments. Doch die Versicherungen und ihre Lobby würden diesen nie erteilen, schreibt «La Liberté». Der Vorschlag ähnele eher einem «verzweifelten Versuch» von «schlechten Verlierern», meint die Zeitung «Le Temps». Die Schweiz dürfe sich nicht auf endlose Reformen einlassen, mahnt «Le Matin»: «Versprechen und Geduld reichen selten, um eine Krankheit zu heilen.»
Auch der «Röstigraben» ist nach der Abstimmung einmal mehr Thema in der Westschweiz. Der Unterschied in der Wahrnehmung der Rolle des Staates zwischen den Deutsch- und den Westschweizern «ist immer noch da», ist in der «La Liberté» zu lesen. «Im Antlitz einer emotionalen und sehr komplexen Frage (…) vertrauen die Westschweizer instinktiv dem Staat», schreibt «L’Agefi».