Die Distanz auf der Karte etwas unterschätzt – das führt zu einer recht langen Wanderung und ziemlich konfusen Gedanken beim Gehen.
Schottisch Flirten? Eine Weile schien mir, als ich gestern Abend im Invergarry Hotel inmitten der schottischen Wanderer, Fischer und Männergruppen sass, ich hätte etwas Neues gelernt. Als mir die Serviertochter den Burger mit Spiegelei, Toast, Schinken, Zwiebeln, Gurken und Chippes flink auf den Tisch stellte, schmetterte sie mir die Kartoffeln auf die Hose. Die junge Schottin entschuldigte sich eilig, ich hielt´s nicht der Rede wert und liess es zu, dass sie die Kartoffeln von meinen Beinen räumte. Und wie sie dann so hin- und herhuschte, mir Blick um Blick zuwarf, die ich freundlich erwiderte, da wurde mir die Frau so liebenswürdig. Sie blickte und zwinkerte mir zu und ich tat desgleichen und hatte meine helle Freude daran, wie sie sich bewegte. Sie wechselte ihre rote Bluse, trug plötzlich weiss. Und irgendwann war sie dann verschwunden, ich sass vor einer halbleeren Pint.
Hab sie heute morgen übrigens nicht mehr gesehen, die junge Frau im Invergarry Hotel. Der dicke Wirt rechnete ab, aber ich hab die ersten Meilen lang noch ein bisschen – aber zusehends weniger – an die blonde Schottin gedacht. Irgendwann nächstens wird ihr Flirt erfolgreicher sein. Dann wird sie eine Familie gründen und vielleicht in einem dieser schönen Cottages leben und gar nicht wissen, in welch wunderschöner Landschaft sie wohnt, weil sie vielleicht noch gar nicht viel anderes gesehen hat. Sie wird vielleicht von einem anderen Leben träumen.
Ich zog erstmals ohne Jacke los, nur das Gilet über dem Hemd, an den Rücken die fünfundzwanzig Kilo gehängt. Teerstrasse erst, dem Loch Oich entlang, Verkehr in beiden Richtungen, unten am See Fischer, Gruppen von drei, vier jungen Männern, die Fischerstiefel trockneten oder Ruten ins Wasser hielten.
Sackgasse mit Schottin
In North Laggan, so hatte ich auf der Karte gesehen, musste ich rechts einen Pfad finden, eine Art Feldweg. Doch ich spazierte in eine Sackgasse, an deren Ende eine leicht versoffen wirkende Schottin Blumenzwiebeln in die Erde drückte. Ob sie auch mal mit fliegenden Kartoffeln geflirtet hat? Sie verstand meine Frage nach dem Weg kaum und schickte mich der Einfachheit halber zurück. Ich fand schliesslich einen Weg und wusste, dass ich nun mindestens zehn Kilometer lang Ruhe vor Autos und Lastwagen haben sollte: Ein langer Weg begann, dem See entlang. Irgendwann schnappte ein Hund nach mir.
Setzte mich mal hin, sah ein Frachtschiff in der Landschaft, das im Kanal zwischen Loch Oich und Loch Lochery geankert hatte. Ein Sujet zum Zeichnen, im samten-süssen Duft des blühenden Ginster. Die Sonne spielte mit dem Wasser, bis unvermittelt Regentropfen meine Skizze bekleckerten.
Bauernregel
Ein Kuckuck. Ich griff in die Gesässtasche – es ist ordentlich Geld im Portemonnaie. Wenn die Bauernregel stimmt, dann sollte ich in diesem Jahr keine Geldprobleme haben – eine Bauernregel, die hängengeblieben ist. Kein Mensch weit und breit, nichts als schlichte, weite Landschaft, nichts als Vegetation, die jetzt Knospen spriessen lässt, die dem Sommer, den heissen Tagen entgegenlebt. Und ständig diese Bauernregel im Kopf: Wenn der erste Kuckuck ruft und dein Säckel voll ist, wirst du keine Geldprobleme haben. So ein Quatsch! Quatsch? Schritte auf dem Feldweg, viele, viele Schritte und oben denkt der Kopf über Bauernregeln nach. Die hängengeblieben sind.
Was ist hängengeblieben in einem bald fünfzigjährigen Kopf? Was hat er alles in sich hineingestopft und was kommt auf dieser ungewiss langen Strecke plötzlich heraus: eine Kuckucks-Bauernregel. Was für Weisheiten, während die wirklich gescheiten Köpfe mit ihrem angehäuften Wissen Erklärungen zu allem und jedem ausspucken. Erklärungen zum Beispiel, warum die Franzosen am vorletzten Wochenende nicht zur Urne gegangen sind und den Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen haben triumphieren lassen. Nun gehen sie zu Tausenden auf die Strasse, um gegen das Geschehene zu protestieren. Und das braucht Erklärungen, in den Zeitungen zum Beispiel. Habe ich doch auch bis vor kurzem mitgemacht: In diesem Werweissen und Analysieren der grossen Zusammenhänge. Nun denke ich über eine Bauernregel nach.
Wahrscheinlich war es so: Hatte der Bauer im Frühling noch genügend Geld, um sich Saatgut zu kaufen, das eine oder andere Werkzeug, vielleicht eine zusätzliche Kuh, ein Pferd gar oder ein Stück Land, dann konnte er unbesorgt ins Jahr sehen. Vielleicht so. Vielleicht anders. Der Kuckuck rief immer wieder, hab ihn schon lange nicht mehr gehört, jetzt den ganzen Tag über.
Die Rehe lassen einen nah herankommen hier. Wär ich Jäger gewesen, ich hätte gute Beute gemacht.
Loch Lochery, ein langer See, fünfzehn Kilometer oder eher mehr. Jenseits des Wassers führt die Strasse vorbei, manchmal tönt ein Auto vom anderen Ufer herüber, ein Schiff gleitet still dahin, ein Förster nutzt die Mittagspause zum Angeln, sonst nichts, zwei Velofahrer, ein Wanderer und eine Wandergruppe, acht Leute.
Kahlschlag
Der Förster ist wieder bei seinen Kollegen. Sie lassen ihre Motorsägen aufheulen. Man holzt hier radikal. Hektarenweise fällt alles nieder, am Wegrand schichten sie die Stämme zu riesigen Stapeln auf. Das Moos auf den kahlen Hängen vergilbt, spitz und kräftig bohren sich Gräser durch das tote Moos. Wie Speere stehen sie in dürrer Steppe.
Zehn Minuten weiter steht der alte Wald noch, das Moos lebt, saftig überzieht es Steine, Baumstrünke, klettert an Stämmen hoch, überzieht wie ein flaumiger Teppich die Welt. Und wie! Überall breitet sich der grüne Teppich aus. Wächst an schräg gewachsenen Eichenstämmen hoch, weit hinauf, hinauf und hinaus soweit die Sicht reicht, bis hinunter zum See, lässt Farne sich einnisten. Sie sind schon grün, rollen sich aus und winken fröhlich im Wind. An den Ästen drücken die Knospen, die Flechtenbärte wedeln ihnen zu.
Clunes, Bunarkaig. Cottages, verträumter kann man sie sich nicht vorstellen. Rauch aus Kaminen, Kinderspielzeug in den Gärten, sanft geht´s zum See, auf den Schiffstegen wächst Gras, hat sich auch Moos angesetzt. Kleine Boote mit kecken Kabinen. Eine riesige Birke ist ins Wasser gestürzt, sie treibt dennoch Blätter, fingernagelgross auch hier.
Die Füsse schmerzen, die linke Wade schmerzt, die rechte tut auch weh. Halb sechs und noch zehn Kilometer bis Fort William – ich habe keine andere Wahl. Zehn Kilometer auf einem Pfad dem Caledonian Canal entlang. Zwei Männer grüssen. Zehn Kilometer. Vertreibe mir die Länge, indem ich tausend Schritte abzähle und prüfe, wieviel Zeit ich brauche. Zwei Schwäne auf dem Kanal. Schwarze Hälse, graues Gefieder: Sind das Schwäne? Sie balzen. Wahrscheinlich schottische Schwäne.
Ben Nevis, gestern als Bergspitze im Hintergrund gezeichnet, beginnt vor mir zu thronen. Dort vorn, wo er ansteigt, ist Fort William. Dieses Gefühl, einen Berg zu umgehen! Ben Nevis, die Spitze im Nebel, bis weit hinunter schneebedeckt. Der höchste Berg Schottlands.
Die Haggis-Geschichte
Und nochmals ein Eichen bestückter Hain. Hier wachsen Märchen oder zumindest Fantasien. Einige binden die Schotten den Touristen auf. Haggis sei ein sehr scheues, seltenes Tier, sagen sie. Man könne es kaum erlegen, erzählt mir einer, der plötzlich neben mir steht und mich ein Stück weit begleitet. Das Tier sei nachts wach und vor allem: es sei schlauer als die meisten Jäger. Nächtelang würden die Haggis die Männer zum Narren halten und zum Whisky trinken anhalten. So lange, bis die Schützen das Korn nicht mehr ins Visier brächten. Dann erst, wenn die Jäger Whisky-trunken schlummerten, dann erst würden Haggis auftauchen. Einige schlaue Jäger gäbe es, und die paar Haggis, die man aufgetischt kriege, seien von ihnen erlegt. Der Mann, der vom Haggis erzählt, muss plötzlich rechts abbiegen. Die Geschichte, die er mir erzählt hat, habe ich am Abend zuvor auf der Speisekarte des Invergarry Hotel gelesen. Hätte ich es geglaubt, hätte ich vielleicht Haggis, den mit Innereien gefüllten Schafmagen, bestellt.
Weit im Hintergrund Fort Williams. Ich weiss es, will es aber nicht glauben und meine Knochen mögen nicht mehr: Noch vier Meilen. Ein Mann auf einem Fahrrad mit Fischerrute hält an. Nach Fort Williams gebe es einen Weg, der mir zwei Meilen erspare: auf dem Bahngeleise. But: «Be carefully!»
Ich gehe, finde das Bahngeleise, suche den Schritt von Schwelle zu Schwelle. Nach fünf Minuten höre ich Geschrei. Ich drehe mich nicht um. Da will mich einer runterholen. Kurz vor der Brücke, wo ich auf einen Fussweg neben den Geleisen wechseln könnte, verlasse ich die Geleise und durchquere eine Einfamilienhaus-Siedlung, wo tief in den Motor gebeugt, ein Mann die Fabriknummer abliest und seiner Gattin in ein Büchlein diktiert.
Siftons Tipp
Und da ist wieder Mann mit dem Fahrrad und der Fischerrute. Warum ich die Geleise verlassen habe, fragt er. Weil ich keinen Ärger wolle, sage ich und mir einer nachgeschrieen habe, ich solle vom Bahndamm verschwinden. Ach, sagt der Mann, lass dich nicht beeindrucken. Ich hätte es machen sollen, wie einer seiner Freunde: Wolfgang, ein Deutscher, der in einem kleinen Dorf namens Cliff wohne. Alle hätten ihn ständig als Nazi beschimpft und ihn mit dem Hitlergruss geäfft. Da sei er eines Tages auf das Kriegsdenkmal im Dorf geklettert, das ganze Dorf habe sich empört zusammengerottet. «Und weisst du, was er gemacht hat? Er hat ihnen den Stinkefinger gezeigt. So! Das hättest Du auch machen sollen auf dem Bahngeleise.» Er selbst sei im übrigen schon oft diesen Weg gegangen.
Und Sifton, etwa 35jährig, kurzhaarig wie alle hier und einige Biere intus, Sifton also – ein ungewöhnlicher Name auch hier, wie er versichert – zeigt mir einen kurzen Weg ins Städtchen, begleitet mich, erzählt von seiner längsten Fussreise, sie war fünf Meilen lang, aber soweit gehe er niemals mehr zu Fuss. Er sagt, er wolle immer hier in Fort William bleiben. Er sei hier geboren und es gefalle ihm noch immer sehr. Irgendwann bleibt er stehen, zeigt aufs Meer: «Sweet.»
Im Pub in Fort Williams warf mir die Serviertochter eine geschwellte Kartoffel auf die Hose. Sie liess sie liegen und würdigte mich im Laufe des Abends keines Blicks mehr. Schottisch Flirten beginnt wohl doch anders.