Kultwerk #49: Salvador Dalís Lippensofa

Zeitlebens war Salvador Dalí fasziniert von Mae West. Ihr Mund stand Modell für seine legendäre Lippenliege.

Salvador Dalis Lippensofa im «Mae West Raum» im Teatre-Museu Dali in Figueres. (Bild: Monica Gumm/laif)

Zeitlebens war Salvador Dalí fasziniert von Mae West. Ihr Mund stand Modell für seine legendäre Lippenliege.

Diese Lippen, blutrot geschminkt, wohl­geformt und sinnlich voll! Am liebsten ­würde man sich in sie hineinsetzen. Was gar nicht so abwegig ist. Denn der riesige Mund mitten im Raum, der den Betrachter in Bann zieht, ist ein Sofa. Wir wagen es trotzdem nicht abzusitzen; ­argwöhnisch folgen die Augen der strengen Museumswächterin jedem ­unserer Schritte.

Salvador Dalí (1904 bis 1989) liess das ­Lippensofa 1972 speziell für sein «Teatre-­Museu» im nordspanischen Figueres an­­­fer­tigen – als Teil eines raumergreifenden, «begeh­baren» Gesichts. Blickt der Besucher von einer Empore aus durch eine Linse, gruppieren sich die Objekte im Raum zum Konterfei des ame­rikanischen Sexsymbols Mae West: Die ­Bilder an der Wand werden zu Augen, der Kamin wird zur Nase, eine ­Stufe zum Kinn, der Bilder­rahmen vor der Linse zur Frisur und das Sofa zur Lippe.

Der «Mae-West-Raum» bildete den Schlusspunkt von Dalís jahrelanger Aus­einandersetzung mit der schillernden Schauspielerin und Broadway-Autorin, die mit ihren provokativen Auftritten das Hollywood der 1930er-Jahre aufmischte.Als Inbegriff der Femme fatale brach West alle damals gültigen Tabus. Sie prokla­mierte (und praktizierte) die freie Liebe, kämpfte für die Emanzipation der Frauen und ­scho­ckierte das prüde Ame­rika der Zwischenkriegsjahre mit ­explizit nicht-jugendfreien Theateraufführungen.

Vordenker der Pop Art

Dalí war zeitlebens fasziniert von der ­lasziven Lebefrau. Zwischen 1934 und 1935 entstand die Gouache-Zeichnung mit dem eigenwilligen Namen «Gesicht von Mae West, kann als surrealistisches Ap­parte­ment benutzt werden». Die Zeichnung nahm Dalís spä­tere Idee des «begehbaren» Gesichts vorweg. Und es brachte Dalís Freund und Förderer Edward James, einen reichen Exzentriker und Urgross­neffen des US-­Romanciers Henry James, auf den Plan, das abgebil­dete Lippensofa als echtes Möbelstück produzieren zu lassen.

Der Künstler liess sich überreden. Ab 1936/37 gingen fünf Lippensofas in England in ­Produktion, und Dalí wurde mit ­seinem Lippendiwan und weiteren Designobjekten zu einem der Vordenker jenes Kunst­konzepts, das die Pop-Art-Künstler ab Mitte der 1950er-Jahre erfolgreich weiterent­wickeln sollten: Kunst als «Produkt», das einen direk­ten Bezug zur Alltagskultur herstellt und die Welt des Konsums mitprägt.

Mae West: Die US-Autorin und Schauspielerin Mae West (1893–1980) genoss in den 1920er- und 1930er-Jahren Kultstatus. Als Autorin nahm sie punkto ­Sexualität kein Blatt vor den Mund; als Schauspielerin mimte sie lustvoll die Femme fatale. Ihr Stück «Sex» (1929) ging den ­Behörden zu weit: Wegen «Obszönität auf der ­Bühne» wurde sie zu ­einer Haftstrafe verurteilt – was sie aber keineswegs zähmte.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 12.10.12

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