Zeitlebens war Salvador Dalí fasziniert von Mae West. Ihr Mund stand Modell für seine legendäre Lippenliege.
Diese Lippen, blutrot geschminkt, wohlgeformt und sinnlich voll! Am liebsten würde man sich in sie hineinsetzen. Was gar nicht so abwegig ist. Denn der riesige Mund mitten im Raum, der den Betrachter in Bann zieht, ist ein Sofa. Wir wagen es trotzdem nicht abzusitzen; argwöhnisch folgen die Augen der strengen Museumswächterin jedem unserer Schritte.
Salvador Dalí (1904 bis 1989) liess das Lippensofa 1972 speziell für sein «Teatre-Museu» im nordspanischen Figueres anfertigen – als Teil eines raumergreifenden, «begehbaren» Gesichts. Blickt der Besucher von einer Empore aus durch eine Linse, gruppieren sich die Objekte im Raum zum Konterfei des amerikanischen Sexsymbols Mae West: Die Bilder an der Wand werden zu Augen, der Kamin wird zur Nase, eine Stufe zum Kinn, der Bilderrahmen vor der Linse zur Frisur und das Sofa zur Lippe.
Der «Mae-West-Raum» bildete den Schlusspunkt von Dalís jahrelanger Auseinandersetzung mit der schillernden Schauspielerin und Broadway-Autorin, die mit ihren provokativen Auftritten das Hollywood der 1930er-Jahre aufmischte.Als Inbegriff der Femme fatale brach West alle damals gültigen Tabus. Sie proklamierte (und praktizierte) die freie Liebe, kämpfte für die Emanzipation der Frauen und schockierte das prüde Amerika der Zwischenkriegsjahre mit explizit nicht-jugendfreien Theateraufführungen.
Vordenker der Pop Art
Dalí war zeitlebens fasziniert von der lasziven Lebefrau. Zwischen 1934 und 1935 entstand die Gouache-Zeichnung mit dem eigenwilligen Namen «Gesicht von Mae West, kann als surrealistisches Appartement benutzt werden». Die Zeichnung nahm Dalís spätere Idee des «begehbaren» Gesichts vorweg. Und es brachte Dalís Freund und Förderer Edward James, einen reichen Exzentriker und Urgrossneffen des US-Romanciers Henry James, auf den Plan, das abgebildete Lippensofa als echtes Möbelstück produzieren zu lassen.
Der Künstler liess sich überreden. Ab 1936/37 gingen fünf Lippensofas in England in Produktion, und Dalí wurde mit seinem Lippendiwan und weiteren Designobjekten zu einem der Vordenker jenes Kunstkonzepts, das die Pop-Art-Künstler ab Mitte der 1950er-Jahre erfolgreich weiterentwickeln sollten: Kunst als «Produkt», das einen direkten Bezug zur Alltagskultur herstellt und die Welt des Konsums mitprägt.
Mae West: Die US-Autorin und Schauspielerin Mae West (1893–1980) genoss in den 1920er- und 1930er-Jahren Kultstatus. Als Autorin nahm sie punkto Sexualität kein Blatt vor den Mund; als Schauspielerin mimte sie lustvoll die Femme fatale. Ihr Stück «Sex» (1929) ging den Behörden zu weit: Wegen «Obszönität auf der Bühne» wurde sie zu einer Haftstrafe verurteilt – was sie aber keineswegs zähmte.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 12.10.12