Lebensschule

Der kanadische Film «Monsier Lazhar» vermittelt den Sinn des Lernens – und das mit Stil. 

Frontalunterricht: Monsieur Lazhar gewinnt junge Schüler mit alter Schule. (Bild: Agora Films Sàrl/zVg)

Der kanadische Film «Monsier Lazhar» vermittelt den Sinn des Lernens – und das mit Stil. 

Statistisch gesehen hat jede Baslerin fast so viele Jahre in der Schule verbracht wie in einer Ehe. Eltern verbringen noch einmal Jahre mit Schulischem – wenn ihr Kind in der Schule sitzt. Wir neigen zu Mitsprache, denn wir sind mit dieser Institution vertraut. Kennen wir uns mit der Schule besser aus als mit dem Leben? Kennt sich die Schule mit dem Leben aus?

Die Chance für eine Schülerin der neunten Klasse, zwei Väter und zwei Mütter zu haben, stehen 1:1. Den Rest fängt die Schule auf. Mehr als die Hälfte der eingeschulten Kinder in den Basler Schulen sprechen als Muttersprache nicht Deutsch. Den Rest fängt die Schule auf. Kinder verbringen immer mehr Zeit mit elektronischen Gadgets und immer weniger mit anderen Kindern. Den Rest fängt die Schule auf. Der Schulstoff hat sich in den letzten Jahrzehnten vermehrt. Die Schüler-Hirne sind gleich gross geblieben. Den Rest fängt die Schule auf.

Was geschieht nun, wenn sich eine Lehrerin umbringt? «Monsieur Lazhar» geht dieser Frage nach, und zwar dort, wo die Lehrerin hing: im Klassenzimmer der Sechstklässler. Wie kann das Leben, die Schule, nach einer Katastrophe weitergehen? Erst einmal wird das Zimmer neu gestrichen. Nach den Ferien soll wieder Unterricht stattfinden. Monsieur Lazhar kommt da wie gerufen. Der Algerier bewirbt sich für die Stelle. Er ist ein Gentleman und, das erfahren nur wir: Flüchtling. Die kanadische Einwanderungskommission entscheidet gerade darüber, ob er als politischer Flüchtling gelten darf (seine Familie wurde umgebracht).

Monsieur Lazhar verkörpert feinste arabische Kultur. Als Erstes lässt der höfliche Mann im Unterrichtsraum die Bänke in Reihen ausrichten. Weg vom Kreis, hin zum Frontalunterricht. Er diktiert der Klasse Balzac und Regeln in hübschen französischen Sätzen. Alte Schule. Monsieur Lazhar geht so mit dem Trauma der Kinder um, wie mit seinem eigenen: Er sucht nach einem Sinn im Sinn des Lernens. Aber was ist Lernen? Er macht nicht das Schulwesen zur Hauptsache, sondern die Suche nach Stil. Er gewinnt damit das Vertrauen der Kinder, aber nicht das der Schule.
«Menschenkenntnis wird in Form von Lehrerkenntnis erworben», hielt Bert Brecht einst fest. Was, wenn die Lehrerschaft sich so rasch ändert? «Monsieur Lazhar» ist ein willkommener Ratgeber. Ein Schulbeispiel aus dem Leben.

 

Die «Lichtspiele» von Hansjörg Betschart gibt es auch als Blog auf blogs.tageswoche.ch

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09.03.12

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