Zu Ehren des «Pardo», des Filmfestivals Locarno: eine Erinnerung an Luchino Viscontis opulentes Adelsporträt «Der Leopard».
Diese Ballsäle, diese Damenkleider, diese atemberaubenden Landschaften, durch die sich ein Revoluzzerheer quält! «Der Leopard» von Luchino Visconti ist ein dreistündiger Filmkoloss, der pausenlos die Sinne überfordert und an dem man sich dennoch nicht sattsehen kann. Ein solcher Monumentalstoff, in dem alte soziale Ordnungen zerfallen und Generationen auseinanderbrechen, in dem revolutionäre Kräfte die Städte einnehmen, der alte Adel seinem letzten Walzer entgegentanzt und junge Romanzen von der Geschichte durchgeschüttelt werden – solche Stoffe sind heute in die Digitalstudios abgewandert. Und verblassen im Gleichschritt mit ihrer Technologie.
Doch in den glücklichen Tagen des Monumentalkinos, den 1950er- und 1960er-Jahren, wurden Historienfilme noch mit grossen Budgets befeuert, um ihre überwältigende Wirkung zu erzielen. Cinecittà, die Filmstadt Roms, unterschied sich darin nicht von Hollywood. Dort drehte Visconti 1963 «Der Leopard» und schuf damit sein Meisterwerk.
«Der Leopard» handelt vom Zusammenbruch der Bourbonen-Herrschaft in Sizilien zur Zeit des Risorgimento, der Einigung Italiens zum nationalstaatlichen Königreich infolge der Eroberungen von Garibaldis Freischärlertruppen. Doch bietet die Historie nur den Rahmen für ein anderes Thema, das Visconti – und auch Giuseppe Tomasi di Lampedusa, dem Autor der Romanvorlage – näherstand als die Politik: der Niedergang des alten sizilianischen Adels, der Garibaldis «Zug der Tausend» nichts entgegenzusetzen hatte.
Verkörpert werden diese Relikte der alten Ordnung von Don Fabrizio (ungeheuer melancholisch: Burt Lancaster), dem Fürsten von Salina, der die Erneuerung der Gesellschaft und einen Sitz im Senat ablehnt und stattdessen desillusioniert in seinem sizilianischen Adelssitz die prachtvoll ausgestatteten Gänge entlangmarschiert. Als Gegenpart dient dessen Neffe Tancredi (Alain Delon), ebenfalls adlig, jedoch verarmt, der in den neuen Zeiten neue Chancen sieht – nicht nur gesellschaftlich, sondern auch für seinen persönlichen Aufstieg. Und der am Ende die schöne Tochter eines Neureichen kriegt (Claudia Cardinale).
Lancaster, Delon, Cardinale – schauspielerisch hält «Der Leopard» ein exzellentes Niveau. Die eigentliche Hauptfigur ist jedoch der Regisseur selbst: Luchino Visconti di Madrone, Graf von Lonate Pozzolo und somit ebenfalls adliger Herkunft, dessen Familie früher über beachtliche Ländereien Norditaliens herrschte. Adel verpflichtet, selbst bei einem wie Visconti: Obwohl er als junger Mann mit kommunistischen Idealen sympathisierte, stand er dem gesellschaftlichen Wandel der 1960er-Jahre ablehnend gegenüber. Visconti verstand sich als Spross des 19. Jahrhunderts – einer Welt, die untergegangen war.
Ein Nachhall davon ist in der Ästhetik von «Der Leopard» zu sehen: eine in nahezu dekadenter Weise opulent ausgestattete Welt, deren Prunk ein letztes Aufbegehren gegen ihre Endlichkeit darstellt.
Der Leopard von Locarno
Jedes Jahr im Sommer schleicht ein Leopard über die Kinoleinwände und kündigt das Filmfestival Locarno an, das schon lange den Übernamen «Pardo» trägt. Am «Pardo» – Kurzform des italienischen Wortes für Leopard (gattopardo) – werden auch dieses Jahr wieder «Leoparden» verliehen, darunter der «Goldene Leopard», der Hauptpreis des wichtigsten Filmfestivals der Schweiz.
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Das Festival del Film Locarno dauert vom 6. bis zum 16. August 2014.