Kein Land sitzt so lange im Wartezimmer Europas wie die Türkei. Ob und wann sich für sie die Tür zum EU-Beitritt öffnet, ist heute ungewisser denn je.
Schon 1959 bewarb sich Ankara um eine Mitgliedschaft in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Aber erst im Dezember 2004 entschieden die Staats- und Regierungschefs der EU, Beitrittsgespräche mit der Türkei aufzunehmen. Zuvor hatte das Land Reformen wie die Abschaffung der Todesstrafe, das Verbot der Folter, eine Stärkung der Versammlungsfreiheit sowie mehr Rechte für die kurdische Minderheit beschlossen.
Die Verhandlungen begannen im Herbst 2005. Sie wurden aber bereits nach einem Jahr wieder eingefroren, wegen des ungelösten Konflikts um Zypern, dessen Nordteil die Türkei seit 1974 besetzt hält. Als Erdogan die Massenproteste vom vergangenen Sommer mit brutalen Polizeieinsätzen niederschlagen liess und eine Internetzensur verhängte, gab es in der EU Stimmen, die einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen forderten. Andere argumentieren gegenteilig: Gerade jetzt müsse man die Verhandlungen neu beleben, um Einfluss auf die Entwicklungen in der Türkei nehmen zu können.
EU-Frage verhärtet innenpolitische Fronten
Im Land ist die Stimmung allerdings längst gekippt. Die anfängliche Europa-Euphorie ist in Enttäuschung umgeschlagen. Hielten noch 2004 laut einer Umfrage drei Viertel der Türken den EU-Beitritt für eine «gute Sache», sind es jetzt nur noch 38 Prozent. Auch unter den Politikern in Ankara macht sich Frustration breit. Wenn die EU die Beitrittsverhandlungen weiter verschleppe, werde sich die Türkei «anderweitig umsehen», erklärte Erdogan.
Für türkische Oppositionelle gewinnt die europäische Perspektive allerdings gerade jetzt besonders an Attraktivität: Sie setzen auf die EU als treibende Kraft für demokratische Reformen und als Wächter über den Rechtsstaat, den manche unter Erdogan bereits in Gefahr sehen. Auch für die türkische Wirtschaft und die ausländischen Investoren bleiben die Bindungen an die EU der wichtigste Stabilitätsanker.