«Leviathan»: Ein Film, zu kritisch für den Kreml

Andrey Zvyagintsev wurde in Russland dafür angefeindet, als sein Film «Leviathan» ins Rennen um den Oscar ging. Er ziehe sein Land in den Dreck. Jetzt läuft der erfolgreichste russische Film des letzten Jahres in den Schweizer Kinos. Andrey Zvyagintsev wurde in Russland dafür angefeindet, dass sein Film «Leviathan» nach dem Gewinn des «Golden Globe» möglicherweise […]

Andrey Zvyagintsev wurde in Russland dafür angefeindet, als sein Film «Leviathan» ins Rennen um den Oscar ging. Er ziehe sein Land in den Dreck. Jetzt läuft der erfolgreichste russische Film des letzten Jahres in den Schweizer Kinos.

Andrey Zvyagintsev wurde in Russland dafür angefeindet, dass sein Film «Leviathan» nach dem Gewinn des «Golden Globe» möglicherweise auch einen Oscar gewinnen könnte. Er ziehe sein Land in den Dreck. Vor allem jene Kirchenoberhäupter, die Zvyagintsev im Film Wahrheit als oberstes Gesetz predigen lässt, finden, es sei zu viel Wahrheit im Werk.

Die Zuschauer sehen das landesweit anders: Der Film läuft mit über 500 Kopien im Russland. Jene Einwohner des Drehortes Teriberka, die den Film gesehen haben, stellen fest, ihr Leben sei in Wahrheit noch viel schlimmer. Nach Yuriy Bykovs «Durak», der die Korruption von innen heraus schilderte, ist erneut ein Meisterwerk des gesellschaftlich relevanten Kinos aus Russland zu bewundern.

Leviathan ist ein Meisterwerk des gesellschaftlich relevanten Kinos aus Russland.

Allein die Bilder, die der Kameramann Mikhail Krichman aus dem Norden Russlands auf die Leinwand bannt, erzählen von einer zerrissenen Welt. Bootsgerippe, Häusergerüste, Kirchenruinen. Die Menschen trinken – wie lange schon – den Wodka in Hundert-Gramm-Portionen.

Krichman stellt diese Trümmer der menschlichen Geschichte mitten in eine majestätische Meerlandschaft. Selbst die Natur liegt in Agonie. Das Skelett eines Walfischs taucht mehrfach in den Bildern der wildromantischen Meeresbucht auf – die vor unseren Augen langsam einfriert.

Ein Buch wie von Dostojewski

Am Filmfestival in Cannes ist «Leviathan» für das beste Drehbuch preisgekrönt worden. Dort hat man die an Dostojewski geschulte Kompromisslosigkeit geschätzt. Zwischen Elend und Macht, Glauben und Verarmung führt der Weg in die Tiefe.

Kolyas Gegenspieler, der lokale Bürgermeister mit Pelz und Gefolge.


Der Regisseur Andrey Zvyagintsev beweist mit seinem Drehbuchautor Oleg Negin eine dramatische Meisterschaft, die an der russischen Tradition geschult ist. Über hundert Jahre nach Anton Tschechow liefert er eine beeindruckende Dialogstärke und weitet die Palette der grossen Russen mit einer neuen Themenwahl aus. Bei Zvyagintsev ist es nicht mehr das feudale Bürgertum Russlands, das sich im Niedergang befindet, sondern es sind die lokalen Politker – während die neureichen Nutzniesser der Clanwirtschaft in Blüte stehen.

Die Talfahrt der Clanwirtschaft

Andrey Zvyagintsev liefert eine fastdokumentarische Sittenstudie. Die Vertreter der Clans halten sich in gegenseitiger Konkurrenz geschmeidig an der Macht. Bei Tschechow war der Handwerker noch Bote der Zukunft. In «Leviathan» gehört der Automechaniker Kolya zu einer Gesellschaft, in der die Güter ausschliesslich durch die Macht der Clans verteilt werden.

Wie Yuriy Bykov in «Durak» hat auch Andrey Zvyagintsev exzellente Schauspieler vor der Kamera versammelt. Aleksey Serebryakov entwickelt als Schauspieler für Kolya eine grandiose Bandbreite. Trunken weist er als aggressiver Vater seinen Sohn zurecht. Liebevoll verspielt belohnt er ihn mit Spass. Verloren lässt er seine Figur gegen den Bürgermeister und seinen Clan antreten: Denn Kolya soll enteignet werden, und er wehrt sich gegen alle Instanzen der korrupten Verwaltung. Nur für seine Frau Lilya findet Kolya längst nicht mehr die Liebe und Kraft, die sie braucht.

Die Nachfahren von Kohlhaas

Doch «Leviathan» ist mehr, als die Geschichte eines modernen Kohlhaas. Kolyas Kampf um Gerechtigkeit zielt über eine persönliche Rechthaberei hinaus. Ihn treibt nicht Sturheit auf der Suche nach Recht. Er vertritt, für seinen Sohn, die Zukunft, und eben das bringt ihn auf einen verlorenen Posten.

Für die Arbeitenden scheint es in «Leviathan» keine Zukunft zu geben. Der Staat schützt nur die Macht der Oligarchen, die ihrerseits über dem Staat stehen. Die Kirche ist die vierte Macht im Mafia-Staat, doch auch sie ist nur eine Nutzniesserin der Armen, deren Rechte niemand schützt.

Der mehrdeutige Leviathan

Kein Zufall ist auch der Titel. In Hobbes Streitschrift «Leviathan» fand der Regisseur einen verblüffend aktuellen philosophischen Überbau, der als Lehre aus dem Bürgerkrieg einen Staat fordert, der die Menschen vor sich selber schützt: «Für mich lautet die Hauptaussage von Hobbes: Der Mensch hat begriffen, dass er den Staat neu erfinden muss, um einen Krieg abzuwenden, in dem jeder gegen jeden kämpft und sich gegenseitig die Macht über andere streitig macht. Der Staat bietet Schutz. Staat bedeutet im Gegenzug auch die Beschränkung der Freiheit des Einzelnen. Zurzeit befinden wir uns in diesem Gegenzug.»

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«Leviathan» läuft in den Kult-Kinos.

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