Schwere Jungs sitzen in Thorberg. Dieter Fahrer hat mit der Kamera ihren Alltag eingefangen.
Dürrenmatt dachte kurz nach dem Geburtstag der Globalisierung über die Schweiz als ein Gefängnis nach, als er für Vaclav Havel hinter dem Eisernen Vorhang eine Rede hielt. Dürrenmatt hat, wie viele von uns, damals sicher nie ein Gefängnis von innen gesehen. Aber die Schweiz sah er von sehr weit innen. Hätte er sie nach Dieter Fahrers Film immer noch als ein Gefängnis bezeichnet? Drei Jahre hat Dieter Fahrer mit den Gefangenen in Thorberg gesessen, ohne verurteilt zu sein. Was er dokumentierte, ist eindrücklich.
Wenig reden und viel sagen
In Thorberg sitzen die Männer meist Jahre. Ohne schwere Jungs auf die leichte Schulter nehmen zu wollen: Wir sind froh, dass wir ihnen hinter der Kamera so nahe kommen dürfen. Diese Männer reden wenig, sagen aber viel. Die Gefangenenwärter sind freundlich, aber bestimmt. Die Insassen haben sich an Zimmerordnungen zu halten. Sie kriegen das Essen an die Zellentür geliefert, dürfen sich drei Stunden pro Tag auf dem Korridor bewegen oder im Fitnessraum. Arbeit ist obligatorisch. Freizeit. Essen. Fernseher und Computer sind im Zimmer erlaubt, nicht aber Internet und Handys. An den Wochenendtagen bleiben die Zellen 19 Stunden pro Tag geschlossen.
180 Insassen aus 40 Ländern sitzen in Thorberg. Und sie erzählen. In breitem Berndeutsch. In gebrochenem Türkisch. In stolperndem Französisch. Sie verschweigen uns nichts. Als wären wir mit ihnen seit Jahren befreundet. Nach 105 Minuten zuhören ist mir ein wenig, als wäre der Kinosessel enger geworden.
Dieter Fahrer widerlegt Dürrenmatt
Ich verlasse das Kino mit einem leisen Unbehagen: Wäre ich nach einem Jahr in dieser Anstalt ein besserer Mensch? Zumindest ist die Frage erlaubt, auf welche Welt die Männer vorbereitet werden. Auf das Gefängnis, das sie – nach Dürrenmatt – draussen erwartet, das «keine Mauern braucht, weil seine Gefangenen Wärter sind und sich selber bewachen, und weil die Wärter freie Menschen sind, machen sie auch unter sich und mit der ganzen Welt Geschäfte, und wie! (…) Der Schweizer hat damit den dialektischen Vorteil, dass er gleichzeitig frei, Gefangener und Wärter ist.»
Dieter Fahrer ist das Kunststück geglückt, Dürrenmatt zu widerlegen und weiter zu denken: Er lässt die Gefangenen sich selber beobachten, sich selber porträtieren. Das sorgt für eine grosse Nähe. Daran, dass die Freiheit für die Männer so fragil ist, merkt man, dass sie sie nicht haben. Die Strafen der Männer sind unbedingt. Unbedingt trifft auch auf den Film zu. Unbedingt ansehen. Lassen Sie sich von diesem Film gefangen nehmen!
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 14.09.12