Männer nehmen in der Schweiz deutlich weniger Opferhilfe in Anspruch als Frauen. Von den jährlich 30’000 hilfesuchenden Menschen stellen sie nur knapp ein Viertel, obwohl sie gemäss Kriminalstatistik ebenso häufig Opfer von Gewalt sind wie Frauen.
Dies geht aus einer Studie der Soziologin Anne Kersten von der Universität Freiburg hervor. In ihrer Dissertation untersuchte Kersten Opferstatus und Geschlecht, Entwicklung und Umsetzung der Opferhilfe in der Schweiz. Sie stützte sich dabei auf die staatliche Opferhilfe in der Schweiz zwischen 1978 und 2011.
Aufgrund der Resultate ihrer Untersuchungen empfiehlt die Soziologin den kantonalen Stellen, Räume und Ressourcen für die Opferhilfe für Männer zu schaffen und dabei zwischen der häuslichen und ausserhäuslichen Gewalt zu unterscheiden. Den Opferhilfestellen rät sie, die Angebote und den Auftritt zu überdenken. In einigen Fällen sei nicht klar, dass sich das Angebot auch an Männer richte.
Männer als Ausnahme angesehen
Die Opferhilfe sei in der Annahme aufgebaut worden, dass vor allem Frauen oder Mädchen Gewalt erlitten, teilte die Universität am Donnerstag zu der Studie mit. Das Männer ebenso sehr Gewalt erfahren und dabei Schädigungen und Angst entwickelten, sei als Ausnahme behandelt worden, als Möglichkeit mit geringer Wahrscheinlichkeit.
Ausserdem sei man davon ausgegangen, dass Männer Gewalt selber bewältigen könnten. Ab 2002 seien zwar erste Medienberichte aufgetaucht, die von männlichen Opfern erzählten. Diese Männer seien jedoch als Versager dargestellt worden: Das gängige gesellschaftliche Bild vom starken Mann und der leicht verletzlichen Frau habe den politischen Diskurs geprägt.
Der Vergleich der Opferhilfe der Kantone Bern und beider Basel zeige, dass dieses Denkschema auch durchbrochen werden könne. Der Anteil beratener Männer in Bern und Basel sei sehr unterschiedlich, liege in Bern bei 17 Prozent und in Basel bei 37 Prozent.
Der grosse Unterschied beruhe nicht darauf, dass es in Basel mehr Gewalt gegen Männer gebe als in Bern, sondern dass die Opferhilfe anders umgesetzt worden sei. Der Kanton Bern habe seine Opferhilfe ohne zentrale Koordination hauptsächlich auf den bestehenden Angeboten aufgebaut.
Basel hat neue Strukturen geschaffen
Vereine, die sich mit ihrem Angebot vorrangig an weibliche Gewaltopfer richteten, hätten ihre Arbeit nun im Rahmen der Opferhilfe fortsetzen können. Die beiden Basel dagegen hätten von Beginn weg neue Strukturen geschafft und bei der Umsetzung des Gesetzes eine stark lenkende Funktion eingenommen.
So habe man auch flexibler handeln können, als erkannt worden sei, dass Männer ebenso stark betroffen seien von Gewalt wie Frauen und der ausserhäuslichen Gewalt an Männern die nötige Aufmerksamkeit geschenkt.
Die Opferhilfe wurde 1984 vom Schweizer Volk beschlossen und trat 1993 in Kraft. Wer durch eine Straftat in seiner körperlichen, sexuellen und psychischen Integrität unmittelbar verletzt wird, hat seither Anrecht auf staatlich finanzierte Unterstützung.