Der moderne Mensch ist wilden Tieren hilflos ausgeliefert.
Man muss den Tatsachen ins Auge sehen: Wer in einer Industriegesellschaft aufwächst, der weiss nur mit braven, domestizierten Tieren wie Katzen, sehr kleinen Hunden oder Meerschweinchen umzugehen – respektive mit ungezähmten Tieren wie Fischen und Löwen, die sich dann aber hinter Glas oder Gitter befinden. Von wilden Tieren, die in Freiheit leben, ist der moderne urbane Mensch komplett überfordert.
Es muss nicht einmal ein Bär sein, obwohl das durchaus vorkommt. Hier manifestiert sich die Angst vor der Natur respektive die tiefe Kluft, die sich zwischen Mutter Erde und ihrem Geschöpf Mensch aufgetan hat:
Eine oder zwei Tauben reichen völlig aus, um den normalen Städter in den Wahnsinn zu treiben. Mit freundlichem Gurren setzen sie sich auf Balkone und Fenstersimse, erledigen ihre Geschäfte und fliegen aufreizend spät davon, sollte ihnen der Besitzer des Simses zu nahe kommen. Natürlich kommen sie wieder. Manchmal haben sie noch Freunde dabei.
Der moderne Mensch will sich das nicht gefallen lassen. Unsere Vorfahren hätten den Vögeln den Hals umgedreht und sie verspeist. Aber der moderne Mensch ist Pazifist und verspeist nur Fleisch von frei lebenden Hühnern. Aus einschlägiger Literatur weiss er, dass Verscheuchen alleine nichts bringt. Also rückt er den Vögeln (die seltsamerweise als dumm gelten) mit blinkenden Dingern wie CDs (für die man seit den Speicherchips eh keine Verwendung mehr hat), Abbildern ihrer Fressfeinde oder stinkenden Kügelchen zu Leibe.
Die Tauben schauen dem eine Weile zu. Und kommen wieder. Der letzte Ausweg in diesem Kampf ist meist ein Netz, das den Besitz vor dem zudringlichen Federvieh schützt: Der Mensch baut sich sein eigenes Zoogehege. Das lässt tief blicken.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 07.06.13