Neonfarben sagen nicht: «Schau mich an!» Sie schreien es.
Wenn Farben eine Schulklasse wären, dann hätte Neon die Rolle des verhaltensauffälligen Kindes inne, das immerzu nach Aufmerksamkeit schreit. Deshalb muss man sich schon fragen, weshalb diese Farben gerade in diesem Sommer so oft in den Regalen der Kleidergeschäfte anzutreffen sind.
Die leuchtenden Töne werden immer von jenen getragen, die auffallen möchten. Kleidungsstücke und Accessoires in Neonfarben funktionieren genau wie Textmarker: Man schaut hin. Das mochten die exaltierten Disco-Maniacs der 1980er-Jahre und die schillernden Streetparade-Jünger der Neunziger; beide Szenen hatten einen deutlichen Hang zur Kostümierung.
Leuchtende Beispiele
In unserem Jahrzehnt sind es die Blogger, welche sich gerne ins rechte Licht rücken, respektive jene, welche gerne von ihnen fotografiert und als leuchtendes Beispiel ins Netz gestellt werden möchten – das macht Sinn, auf dem Bildschirm können Neonfarben schreien, im Print kommen sie niemals so leuchtend zur Geltung, wie sie eigentlich sind.
Seltsamerweise nutzen Politiker den textilen Textmarker bisher nicht. Obwohl sie ja durchaus der Meinung sind, etwas zu sagen zu haben, das es wert wäre, gehört zu werden, kleiden sie sich im Allgemeinen eher in dezenten Tönen.
Vielleicht liegt es daran, dass die Vergangenheit gezeigt hat, dass nicht unbedingt denjenigen am aufmerksamsten zugehört wird, die am lautesten schreien. Und meistens folgen auf die Neon-Explosion sowieso wieder ruhigere Farbzeiten für alle, wie die Geschichte gelehrt hat. Auch das energiegeladenste Kind ist irgendwann erschöpft.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28.06.13