Vor 70 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Einer, der den Horror überlebt hatte, war Vladek Spiegelman. Sein Sohn Art zeichnete mit seinem Buch «Maus» dessen Geschichte nach – und erfand damit die «Graphic Novel».
Darf man das? Comics über den Holocaust zeichnen und die Charaktere in Rassen mit Tierköpfen einteilen, Deutsche als Katzen, Amerikaner als Hunde, Polen als Schweine – und Juden als Mäuse? Art Spiegelman hat sich während Jahren regelmässig mit seinem Vater Vladek getroffen, einem polnischen Juden, der Auschwitz überlebt hatte und nach dem Krieg in die USA emigrierte.
Der Schöpfer von «Maus»: Art Spiegelman. (Bild: imago stock&people)
Vater und Sohn waren sich fremd geworden, als die Gespräche begannen, beide geschädigt durch den Holocaust, der Vater als Überlebender, der Sohn als Nachgeborener, und beide zusätzlich traumatisiert durch den Selbstmord der Mutter und Ehefrau. Auch sie überlebte die Vernichtung der Nazis. Zwanzig Jahre später schnitt sie sich in der Badewanne die Pulsadern auf.
Früher war jedes Gespräch über den Holocaust verboten
Seit die Rote Armee Auschwitz befreite, sind Jahrzehnte vergangen. An den 27. Januar 1945 wird mittlerweile mit dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erinnert, seit 1996 in Deutschland, seit 2006, auf Beschluss der Vereinigten Nationen, weltweit. Aber damals in den späten 1970ern, als Vladek Spiegelman in seinem Haus in der Nähe von New York während zweier Jahre die Geschichte seines Überlebens aufs Tonband seines Sohnes erzählte, war die Erinnerungspflege noch eine andere, eine verkümmerte, besonders innerhalb der betroffenen Familien.
Als die Mutter noch lebte, da verbot der Vater jedes Gespräch über den Holocaust. Später, nach ihrem Suizid, verbrannte der Vater ihre Tagebücher aus dem Lager – dabei hatte sie diese doch eigentlich für ihren Sohn aufbewahrt.
Tiermetaphern, vergleichbar mit Orwells «Animal Farm»
Als der erste Band von «Maus» 1986 in den USA erschien (die einzelnen Kapitel veröffentlichte Spiegelman bereits ab 1980 zusammen mit seiner Frau im Comicmagazin «Raw»), waren die Reaktionen gross und kontrovers – nicht nur wegen des Inhalts, in dem Spiegelman mit seinem dunklen Strich das Grauen der industrialisierten Massenvernichtung detailliert nachzeichnete, sondern auch wegen der Tiermetapher: Die Darstellung der Juden als Mäuse und der Deutschen als Katzen war eine grimmige Antwort auf das Vokabular der Nationalsozialisten, das Juden als «Ungeziefer» und «Volksschädlinge» bezeichnete und behandelte.
Die Schrecken von Auschwitz
Darüber hinaus ermöglichte die Übertragung des Holocaust in das Genre der Tierfabel dem Zeichner, das Schicksal des Vaters archetypisch zu behandeln: Als Geschichte um die Geschichte baute Spiegelman die Beziehung zu seinem Vater auf, den die Schrecken von Auschwitz und Dachau hart und geizig haben werden lassen und der von seinen eigenen rassistischen Vorurteilen gegenüber Schwarzen nicht lassen konnte.
Mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet
Wenn «Maus» trotz der Singularität des Holocaust eine Lehre über ihn hinaus bereit hält, so ist es die Einsicht in die Unausrottbarkeit des Rassismus. Zu einer derartigen inhaltlichen wie formellen Tiefe fand das Genre des Comic vor «Maus» nicht, und Spiegelmans Werk ist der Gattungsbegriff der «Graphic Novel» zu verdanken. «Maus» war das erste gezeichnete Buch, das mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet worden ist.