Anlässlich der Feier zum 40. Jahrestag der Ratifikation der Menschenrechtskonvention (EMRK) durch die Schweiz 1974 hat am Dienstag der Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), Dean Spielmann, die Schweiz für ihre Rolle und Praxis gelobt.
Der Luxemburger EGMR-Präsident wurde von den Präsidenten beider Räte sowie einer Vertretung von Bundesrat und Bundesgericht begrüsst. Er wandte sich am Mittag nach der Session im Nationalratssaal an das Bundesparlament. Die Schweiz sei immer Menschenrechtspionierin gewesen, sagte Spielmann mit Verweis auf das Rote Kreuz.
Die Schweiz, die die EMRK in Landesrecht und Verwaltungsalltag aufgenommen hat, stellte er als Vorbild dar für das Funktionieren des Systems des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes. 2013 wurde auf 97 Prozent der Klagen gegen die Schweiz gar nicht erst eingetreten; Verstösse seien nur in weniger als einem Prozent der Fälle festgestellt worden.
Als aktuellen Fall nannte Spielmann das Urteil zur Verjährung der Asbest-Haftung vom März: Der EGMR habe die Schweizer Frist als zu kurz kritisiert, weil die Krankheit erst sehr lange nach dem Kontakt mit Asbest festgestellt werden könne. Dieses Urteil sei sehr wichtig für die Betroffenen und ihre Familien.
Schweiz half EMRK weiterentwickeln
Mit der Zeit sei der Schweizer Richter «zum natürlichen Richter der Konvention geworden», sagte Spielmann. Selbst Fälle, die nicht die Schweiz betrafen, hätten die Rechtslage in der Schweiz beeinflusst, zum Beispiel ein britischer Fall zum Medien-Quellenschutz oder ein niederländischer zu Disziplinarmassnahmen gegen Soldaten.
Die Schweiz habe zudem die EMRK-Mechanismen wesentlich weiterentwickeln helfen; sie sei dabei ein «Schlüsselakteur». So sei die Fusion von Kommission und Gerichtshof zur heutigen Institution von Schweizer Diplomaten angeregt worden. Nun stehe Europa vor neuen Menschenrechtsfragen, namentlich wegen der Flüchtlingsströme.
Die Schweiz hatte die EMRK am 28. November 1974 ratifiziert. Sie enthält einen Katalog der wichtigsten Freiheitsrechte – darunter das Recht auf Leben, das Folterverbot und das Recht auf ein faires Verfahren.
Personen in den Beitrittsstaaten können diese Rechte vor dem Gerichtshof in Strassburg einklagen. Die Urteile müssen von den Staaten zwingend anerkannt und nachvollzogen werden.
EMRK unter SVP-Beschuss
Spielmanns Rede und das Jubiläum der Ratifizierung durch die Schweiz fallen in eine Zeit, in der sich die Strassburger Richter in der Schweiz scharfer Kritik von rechts ausgesetzt sehen. Die SVP hat inzwischen eine Volksinitiative angekündigt, welche die Anwendung des Völkerrechts in der Schweiz einschränken will – die Initiative richtet sich explizit auch gegen die Menschenrechtskonvention.
Die Junge SVP protestierte gegen die Feier und forderte den Austritt aus der EMRK. Die Mutterpartei beklagte, das Parlament huldige «fremden Richtern».
Die EGMR-Rechtssprechung habe sich seit der Ratifizierung zunehmend «verpolitisiert». Die Partei schreibt im Communiqué von «Gleichmacherei unter dem Deckmantel der Menschenrechte».
Spielmann indes negierte dies explizit: Er trete in Bern nicht als fremder Richter auf, sondern als Freund des Landes; man teile dieselben Werte. Mit einem gemeinsamen Communiqué stellten sich am Dienstag SP, CVP, FDP, Grüne, GLP, BDP und EVP geschlossen hinter die EMRK.
Rossini: EMRK schützt auch Schweizer
Zu Konflikten nach jüngeren Volksentscheiden wie der Annahme der Verwahrungsinitiative sagte Ständeratspräsident Claude Hêche (SP/JU), ein 2013 unterzeichnetes Protokoll zur EMRK sichere einen Ermessensspielraum und damit das Schweizer Subsidiaritätsprinzip. Das Parlament bemühe sich um eine breit akzeptable Umsetzung von Volksbegehren.
Nationalratspräsident Stéphane Rossini (SP/VS) erinnerte in seiner Ansprache daran, dass die Menschenrechtskonvention aus einer UNO-Deklaration nach dem Schrecken des Zweiten Weltkrieges entstanden sei. Sie solle die Individuen vor staatlicher Willkür und Totalitarismus schützen. Auch in der Schweiz sei sie für viele das «Gericht der letzten Hoffnung».
Man solle den EGMR durchaus in Frage stellen wie alle Institutionen, auch sein Verhältnis zu nationalen Gerichten. Man dürfe aber nicht Demokratie und Menschenrechte verwechseln, mahnte Rossini: Menschenrechte seien Ausdruck der Reife einer Demokratie.