Mit einem Chilbi-Mann das grosse Los gezogen

Ruth Fries ist mit Leib 
und Seele Schaustellerin. Obwohl 
sie eine «Eingeheiratete» ist.

Schaustellerin Ruth Fries in ihrem Wohnwagen. (Bild: Hansjörg Walter)

Ruth Fries ist mit Leib 
und Seele Schaustellerin. Obwohl 
sie eine «Eingeheiratete» ist.

Spitzenvorhänge an den Fenstern, eine Sitzecke mit Lederkissen; eine kleine Küche – aber mit allem ausgestattet, was das Haushalten schneller und bequemer macht. Rundum Einbauschränke aus Holz. Gemütliches Wohnen ist hier angesagt. Was weiter hinten kommt, ist nicht einsehbar, versteckt hinter einer Wand, die Tür ist zu.

Wir sitzen im Wohnwagen der Familie Fries aus Kreuzlingen, in ihrem temporären Zuhause, es ist zwei Meter fünfzig breit, neun Meter lang. Am Montag sind sie damit in Basel angekommen, haben ihn neben anderen Wohnwagen in der Rosentalanlage aufgestellt. In der Halle nebenan betreiben sie während der Herbstmesse eine Bahn für die Kleinsten, den Märli-Flug.

Ruth Fries wird im Kassahäuschen sitzen, ihr Mann Heinz zusammen mit den Angestellten die Bahn in Fahrt halten. Die sechzehnjährige Tochter kann nur an den Wochenenden kommen. Sie hat gerade in ihrem Heimatkanton Thurgau, wo die Familie ein Haus besitzt, eine Lehre als Chemie­laborantin begonnen.

Im Frühling kribbelts

Ruth und Heinz sind seit Ende März «auf Reise». So nennen die Schausteller ihr Leben von Chilbi zu Chilbi, von Messe zu Messe. «Aber», will Ruth Fries klargestellt wissen, «wir sind keine Zigeuner!» Schausteller sind Kleinunternehmer, die nur während eines Teils des Jahrs unterwegs sind; während der Wintermonate leben sie ganz konventionell in ihren Häusern. Ihre Kinder gehen ganz konventionell in die Schulen ihres Wohnorts.

«Während der Schulzeit der Kinder muss man sich halt arrangieren», sagt Ruth Fries. So blieb sie unter der Woche mit ihrer Tochter zu Hause und reiste jeweils für die Wochenenden zu ihrem Mann auf die Chilbi-Plätze. «Das war nicht immer einfach», sagt sie. Aber jetzt ist die Tochter bald erwachsen, komme ganz gut allein zurecht, sagt Ruth Fries, die Grossmutter ist ja auch noch da, und Schaustellerkinder seien in der Regel sehr selbstständig.

Bald jedoch beenden die Friesens ihre Reise, es folgen noch ein paar Märkte und dann, Ende November, gehts für die Winterpause ins Haus in Kreuzlingen – ein richtiges Haus, geräumig, warm, mit gemauertem Fundament statt Rädern. Ruth Fries freut sich darauf. Aber sie weiss jetzt schon: «Im März, wenn der Frühling kommt, werde ich richtig kribbelig.» Dann ist wieder Zeit, zu fahren.

Der richtige Mann

Die fünfzigjährige Ruth Fries ist, wie sie sagt, mit «Leib und Seele» Schaustellerfrau. Obwohl sie, im Gegensatz zu vielen ihrer Kolleginnen, nicht aus einer Schaustellerfamilie stammt. Sie ist eine «Eingeheiratete». Ihrem Heinz begegnete sie im Ausgang im Kanton Thurgau, wo sie eine Stelle im Gastgewerbe hatte. Er, der Sohn eines Schaustellers, arbeitete damals als Glaser, sagte der jungen Frau jedoch, dass er zur Chilbi zurückmüsse. Dieses Leben als Angestellter sei langfristig nichts für ihn.

Ruth, die in einem Wohnblock im zürcherischen Bassersdorf aufgewachsen war, liess sich davon nicht abschrecken. Im Gegenteil. «Schon als Kind imponierten mir die Schausteller», sagt sie. Wenn einmal im Jahr die Chilbi in ihr Dorf kam, schaute sie fasziniert den Leuten bei ihrer Arbeit zu, «ich könnte heute noch die Frau beschreiben, die jeweils im Kassahäuschen der Scooter-Bahn sass».

Heinz war der Richtige für Ruth. 1987 starteten die beiden mit einem Schiessstand ihr kleines Schaustellerunternehmen, das sie im Laufe der Jahre um den Märli-Flug, ein Karussell, einen Auto-Scooter und einen weiteren Stand zum Büchsenwerfen erweiterten. Bei aller Romantik, das Schaustellerleben bedeutet viel Arbeit: Rund 60 Auftritte im Jahr gilt es zu organisieren, für jeden muss man sich jährlich neu bewerben, die Konkurrenz ist hart; im Winter müssen anstehende Reparaturen ausgeführt, allenfalls Neuinvestitionen getätigt werden; und im Herbst, der Hochsaison der Messen und Märkte, gilt die 7-Tage-Woche.

«Seit Anfang August haben wir kein Wochenende mehr frei gehabt», sagt Ruth Fries. Dennoch wünscht sie sich kein anderes Leben. «Es ist ein gutes», sagt sie, und: «Heinz ist auch nach 31 Jahren immer noch der Richtige.» Trotz der Enge des Wohnwagens, sie hätten sich immer gut vertragen. Es sei eben klar, wer wofür zuständig ist. Er für die Dinge, die «eine Frau nicht so gut kann, für die schweren Arbeiten», sagt Ruth, und sie für den Haushalt, das Büro und den Schiessstand. «Dafür hat Heinz keine Nerven.»

Bei den Schaustellerpaaren sind die Rollen klar verteilt. So funktioniert auch der Frauenverein, deren Vizepräsidentin Ruth Fries ist. Das ist kein Kaffeeklatschkränzchen, sondern ein richtiger Verein, straff hierarchisch organisiert. Mit Präsidentin, Kassierin, Sekretärin, Beisitzerinnen, erstem und zweitem Fähnrich. Ja, sogar eine Fahne hat der Verein.

Die Frauen für die Geselligkeit

Aber damit hat sichs mit den Parallelen zu den klassischen Männervereinen. Denn die Aufgabe, die sich der «Schweizerische Schausteller Frauen Verein» bei seiner Gründung anno 1929 auf die Fahne geschrieben hat, sind traditionell weibliche: die Pflege der Geselligkeit. «Jede Politik sowie Geschäftsangelegenheiten müssen ausser Acht gelassen werden», erklärte damals die erste Vereinspräsidentin, Helene Marcelli. Und das gilt bis heute.

So organisieren die rund 140 Mitglieder des Vereins nebst gemeinsamen Reisen jedes Jahr die grosse Weihnachtsfeier für die Schaustellerfamilien, nähen Klaussäcke und füllen sie, besorgen Geschenke für die Kinder, bestellen den Samichlaus, planen das Unterhaltungsprogramm. Eine ganz grosse Kiste war die Organisation der Jubiläumsfeier zum achtzigsten Geburtstag des Vereins vor zwei Jahren, die unter dem Motto «Bollywood» stand und, wie Ruth Fries sagt, ein voller Erfolg wurde. «Alle haben geholfen, auch die Männer.» Zusammenhalt, sagt Vizepräsidentin Fries, sei der Leitgedanke des Vereins. Dazu gehört auch Beistand für in Not geratene Familien – Wohltätigkeit, ebenso eine klassische Frauenaufgabe.

Es war denn auch ein Mann, der Ehemann der ersten Präsidentin, der die Idee des Frauenvereins an der Kinder-Weihnachtsfeier der Schausteller aufs Tapet brachte. Ob er so die Männer von gesellschaftlichen Aufgaben entlasten oder vor allem die Frauen stärken wollte, lässt sich aus der Geschichte des Vereins nicht herauslesen. Aber offenbar konnte er sich sicher sein, dass die Männer deswegen nicht plötzlich weniger zu sagen hatten. «Die Männer haben ohnehin immer das letzte Wort», sagt Ruth Fries und lacht: «Respektive zwei: Ja, Schatz.»

Und, Frau Fries, dürfen wir nun noch einen Blick hinter die verschlossene Tür werfen? Wir dürfen: Wir sehen ein fast raumfüllendes, aber aufklappbares Doppelbett, hinter einer weiteren Trennwand das Kinderzimmer mit Kajütenbett und eingebaut im Gang links und rechts je ein WC und eine Dusche. Hier wohnt die Familie Fries, steht auf dem bunten Fensterschild draussen geschrieben. Ruth Fries hat es selbst gemalt.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28/10/11

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