Permanenter Jöh-Effekt

Einst waren sie einfach da: Man liebte 
die Kinder und zog sie auf. Heute wird das Elternsein gnadenlos inszeniert: Babys sind Accessoires.

jöh (Bild: jöh)

Einst waren sie einfach da: Man liebte 
die Kinder und zog sie auf. Heute wird das Elternsein gnadenlos inszeniert: Babys sind Accessoires.

Nelia aus Stansstad «isst ­alles aus Papier und jagt gern Katzen», ­Sophia aus Zürich («Kosename: Schnurzel-Purzel») findet Haare toll;Henry aus Basel («sensibel, humorvoll, liebenswürdig») wippt laut seinem Steckbrief «bei Blätterrauschen mit dem Körper hin und her». Das sind nicht die Vorlieben von Miss- und Mister-Kandidaten, sondern von Babys. 2500 Eltern ­kamen dem Aufruf der «Schweizer Illustrierten» nach, die «Leserschaft von der Lebensfreude ihres Kindes» anzustecken, und schickten Bilder für die Wahl des «süssesten Babys der Schweiz» ein. 16 Wonneproppen strahlen nun auf der Website des Maga­zins um die Wette.

Auch auf Facebook sorgen immer mehr Babygesichter für den permanenten Jöh-Effekt. Nichts gegen die süssen Strampler und ihre stolzen Eltern. Aber reicht es nicht, dass man seit Jahren dabei zuschauen muss, wie Facebook-Freunde Bilder von Regenbögen und Sonnenuntergängen in Australien hochladen und über Steve Jobs oder Amy Wine­house («Danke für alles») trauern?Nun bekommt man auch noch mit, wie ein Würmli nach dem anderen essen, gähnen, gorpsen, laufen und reden lernt. Hat man eigentlich diese Babys mal gefragt, ob sie Lust haben, in einem Netzwerk von 800 Freunden angeschaut zu werden? Dabei sieht man ja viele dieser ­Kin­­der früher oder später sowieso: An Abendessen werden sie mitgeschleppt, an Vernissagen und an Geburtstags­feiern zu später Stunde.Schliesslich haben auch Angelina ­Jolie und Brad Pitt, die mit sechs Kindern und ein paar Nannys durch die Welt tingeln, längst erkannt, dass ein Kind ein Must-have-­Accessoire ist. Hielten die Promis früher Taschen, Autoschlüssel oder Starbucks-Becher in die Kamera, sind es heute die Kleinen. Katie ­Holmes, Frau von Tom Cruise, hielt ihr Liebes so oft vor die Linse, dass sie mittlerweile «als Mutter vonSuri» bekannt ist: Im Vordergrund ihrer Fotos sieht man jeweils ihr Töchterchen in Absatzschühlein durch einen Park rennen. Suri übrigens hat es im Ranking der Promi-Kinder der Zeitschrift «In-Style» nur auf Platz vier geschafft. Auf dem ersten landete Harper, die Tochter von Victoria und David Beckham. Deren Eltern wiederum laden ebenfalls fleis­­sig Bilder ihres ersten Mädchens auf Twitter und Facebook hoch. Es gab eine Zeit, da wurden Kinder nicht hochgeladen, sie waren ­einfach da. Es gab keine Pille, die Kinder wurden schnell gemacht. Es waren keine lang ersehnten Wunschkinder, und nicht selten ­kamen sie auf die Welt, bevor das Kinderzimmer gestrichen und das neue Buch von Remo Largo gelesen war. Ihre Namen tauchten nicht in Zeitungsspalten auf, es gab auch noch keine Zeitschriften wie «Gala Kids». Diese Kinder trugen Kleidung, keine Lederjacken, sie spielten in Schuhen, nicht in Nike Air Max, sie assen Kartoffeln, keine Bioknollen.

«Überförderte» Kinder

Diese Kinder hiessen Peter, Franziska, Stefan. Später Nicole oder Kevin. Bis und mit Generation Kevin war es so: Es gab von diesen Kindern ein paar Analogbilder in guter Qualität – Geburt, erster Chindsgi-Tag, erster Schultag, Erstkommunion, Firmung. In der Pubertät folgte die grosse Foto­lücke: Man liess sich von den Eltern nicht mehr fotografieren, ­Fotohandys und die dazugehörige ­Eitelkeit gabs noch nicht.

Heute ­werden die Kinder fotografiert, bis sie zu schielen beginnen. Sie ­werden getrimmt, gefördert, in den Chinesisch-Unterricht geschickt. Und wehe, Nelia kommt eines Tages trotz Klavier- und Sportunterricht, trotz Nachhilfe nicht ins Gymi! Schliesslich «wächst der Druck, dass sich ­jedes Kind wie ein erfolgreiches Projekt entfaltet», schrieb der ­«Spiegel» kürzlich über überförderte Kinder. Und reicht es nicht zum Miss-­Irgendwas-Titel, dann kann man den Laden zumachen. Bleibt nur noch der Gang zu den «grössten Schweizer Talenten». ­Vielleicht schafft man es mit «Papier essen» ­ja zum TV-Liebling!

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 26/10/11

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