Die Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm hat die Frühförderung von Mittelschichtkindern unter die Lupe genommen. Erstaunt hat sie festgestellt, dass das Ausbildungsniveau der Mutter und das Vorhandensein von älteren Geschwistern einen starken positiven Einfluss auf die Entwicklung von Vorschulkindern haben.
Der Einfluss familienergänzender Betreuung stellte sich hingegen als weniger relevant für die kindliche Entwicklung heraus, wie Stamm am Mittwoch mitteilte. Der Grund dafür dürfte sein, dass bei Mittelschichtfamilien das familiäre Umfeld bereits förderlich ist, weshalb familienergänzende Betreuung nur wenig daran ändern kann.
Für die Studie „Früher an die Bildung – erfolgreicher in Zukunft?“ (FRANZ) hat Stamm bei 300 bildungsorientierten Familien aus Stadt und Land die Aufwachsbedingungen der Vorschulkinder untersucht.
Diese wurden dazu befragt, wie sie den Alltag gestalten, welche Betreuung sie wählen und wie sie ihre Kinder fördern. Die emeritierte Professorin der Universität Freiburg untersuchte anhand der Antworten die Auswirkungen auf die kognitive, sprachliche, mathematische und sozial-emotionale Entwicklung der Kinder.
„Es ist die erste Untersuchung in der Schweiz, welche die Auswirkungen der Betreuung auf die Entwicklung von Vorschulkindern untersucht und dabei auch familiäre Merkmale berücksichtigt hat“, erklärt Stamm die Studiengrundlage.
Vielfältige Hütedienste
Das Ergebnis: Die Kinder der befragten Familien aus der Bodenseeregion, dem Toggenburg, dem Fricktal und dem Berner Seeland wuchsen laut Stamm in einem anregenden Umfeld auf. Mittelschichteltern unternähmen viel mit ihren Kindern wie Vorlesen, Geschichten erzählen, gemeinsames Singen oder Musizieren.
Dies biete Kindern die Gelegenheit, sich mit der Sprache auseinanderzusetzen und sei eine wichtige Schulvorbereitung, erklärt Stamm.
Nur 30 Prozent der Kinder wurden dabei in den ersten drei Lebensjahren ausschliesslich familienintern betreut. Die anderen Kinder wurden an durchschnittlich zwei Tagen ausserhalb der Familie betreut und zwar nicht nur in einer Krippe oder Spielgruppe, sondern auch oft zusätzlich von Grosseltern oder bei einer Tagesfamilie.
Mütterliche Hauptverantwortung
Diese Vielfalt der Betreuungsmuster sei „bisher wahrscheinlich kaum in diesem Ausmass zur Kenntnis genommen worden“, erklärt Stamm. Zuhause wird die Betreuung mehrheitlich von den Müttern geleistet – auch wenn diese zu 60 Prozent oder mehr berufstätig sind.
Die Studie kommt denn auch zum Schluss, dass das Ausbildungsniveau der Mütter, die Anzahl der im Haushalt verfügbaren Zeitungen und Zeitschriften, aber auch ältere Geschwister die Entwicklung der Kinder positiv beeinflussen. Wichtig ist auch, ob die Eltern den Medienkonsum ihres Kindes unter Kontrolle haben und deren Inhalte mit den Kindern diskutieren.
Wichtige Familienkonstellation
Aber egal, ob zu Hause oder ausserhalb der vertrauten vier Wände: Die Studie stellt positive Entwicklungsverläufe bei allen Betreuungsmustern fest. Fortgeschrittene Kinder wurden gemäss Studie entweder intensiv fremdbetreut oder ausschliesslich zu Hause gehütet.
Die familienergänzende Betreuung habe zwar einen mehrheitlich positiven Einfluss auf die kindliche Entwicklung. Die Studie erbringe aber den empirischen Nachweis, „dass die Familie von überragender Bedeutung ist für die kognitive, sprachliche, mathematische und soziale Entwicklung der Kinder“.
Dies sei erstaunlich, weil viele frühere Untersuchungen einen starken positiven Einfluss von familienergänzender Betreuung auf die Entwicklung der Kinder belegten. Die Studien hätten sich jedoch oft auf benachteiligte Familien konzentriert, in denen die Kinder wenig gefördert würden.
Blickwechsel
Das Forscherteam zieht aus seinen Erkenntnissen zwei Schlüsse: Zum einen ermöglichen Mittelschichteltern ihren Kindern eine behütete und sorgfältig ausgestattete Kindheit und verschaffen ihnen Vorteile für das spätere Leben.
Zum anderen müsse der Blick auf die Situation benachteiligt aufwachsender Kinder ein anderer werden: Wenn familiäre Einflüsse derart bedeutsam seien, dann hätten benachteiligt aufwachsende Kinder doppelte Risiken. Sie würden in ihrer Familie weniger gefördert und besuchten deutlich seltener eine familienergänzende Betreuung, die kompensierend wirken könnte.
„Diese Gesamtsituation kann zur Folge haben, dass sich der Unterschied zwischen den Startchancen von Mittelschichtkindern und jenen von Kindern aus benachteiligten Familien weiter vergrössert“, bilanziert Stamm.
Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass die Studie nicht repräsentativ ist und die Aussagen nur auf relativ gut situierte Mittelschichtfamilien übertragbar sind.