Mit «Frühling, Sommer, Herbst, Winter… und Frühling» schuf Kim Ki-duk 2003 ein meditatives Juwel. Seitdem hat der Koreaner mit seinen Filmen immer wieder Aufsehen erregt: In diesem Jahr war er nur als Gast in Venedig – und schockierte.
Es fällt im ganzen Film kein Wort. Nur einmal flüstert eine Frau etwas ins Ohr des jungen Mannes. Mehr wird darüber nicht geredet. Ein Sohn wird missbraucht. Ein Vater betrügt seine Frau. Ein Sohn will seinen Vater töten. Eine Mutter den Vater. Darüber haben die Griechen oft schon wortreich nachgedacht. Sie haben in bilderreicher Sprache den jungen Mann den Beischlaf mit der Mutter schildern lassen. Sie haben wortreich den Sohn über die Selbstblendung sinnieren lassen.
Schrecknisse wie eine Kastration boten bei den Griechen Anlass zu Sprachgewalt. Die Poesie half über das Schreckliche Ereignis hinweg. Bei «Moebius» sollen es die Bilder sagen. Kim Ki-duk ist einer, der Bilder sprechen lassen kann: Thematisch knüpft er dort an, wo Lee Don-Kus mit seinem «Kashi Ggot» schon bei der Berlinale Aufsehen erregte: beim Einbruch der Sexualmoral in Südkorea.
Klassisches Drama
Die Mutter sitzt am Boden. Sie schluckt aus einem Glas den roten Wein. Der Vater übt nebenan mit dem Golfschläger das Einlochen. Der Sohn schiebt beim Jackeknöpfen die Knöpfe nicht ins richtige Knopfloch. Ist das obszön? Damit ist zumindest die sexuelle Verwirrung dreier Menschen poetisch ins Bild gesetzt. Dann geht die ganze Familie aufeinander los.
Im Kern ist die Geschichte jene des Ödipus: Die Mutter wird betrogen. Sie will den Vater entmannen. Sie kastriert stattdessen in Trunkenheit den Sohn. Die Mutter verlässt die beiden Männer. Der Vater lässt dem Jungen seinen Penis transplantieren. Der Junge bleibt impotent – ausser bei seiner Mutter. Worauf er mit ihr schläft. Das Ende ist fürchterlich – ganz wie es ein Orakel, hätte es Wind von der Geschichte, voraussagen würde.
Schonungslose Bildsprache
Als wäre das nicht verstörend genug, setzt «Moebius» noch eine Gruppenvergewaltigung ins Bild, die den Sohn zum Teil einer Sühnegeschichte macht, in der er zum Geliebten der Vergewaltigten wird. Kim Ki-duk denkt auch hier die Dimension seiner Missbrauchsgeschichte zu Ende: Der Junge Mann kann mit seiner Freundin Sexualerregung nur empfinden, wenn sie sein Fleisch mit einem Messer penetriert.
Es ist also kein Film für schwache Nerven. Trotzdem ist er klassisch gebaut und erlöst uns auch klassisch: Dreimal holt der Vater den Revolver aus seiner Schreibtisch-Schublade, in der «Das Mädchen mit dem Perlohrring» liegt: Zum ersten Mal, um sich zu entmannen, zum zweiten, um sich selber zu richten, und zuletzt, um seine Frau zu töten. Jedes mal leitet er eine neue Abteilung ein. Drei Abschnitte hat auch der Film, wie es sich seit Aristoteles gehört: einen Anfang. Eine Mitte. Und ein Ende.
Bilder, die weit mehr sagen, als Metaphern verbergen könnten
Weil Kim Ki-duk Ungeheurlichkeiten ins Bild setzt, ohne ihnen Worte gegenüberzustellen, muss er einer Bildsprache ohne Metapher vertrauen. Wenn wir auch selten explizit die Gewalt sehen, so wird sie uns doch ausgesprochen sichtbar gemacht. Kim Ki-duk geht damit das grösste Wagnis ein, dass unsere Phantasie kennt: Ohne die tröstende Hilfe der Metapher über Derartiges nachzudenken, ist, als würde man den Selbstmord eines Elternpaares, eine Kindstötung oder die Kastration eines Sohnes dulden. Wären da nicht die tolpatschigen, manchmal pathetisch unbeholfenen Schauspielerinnen, der Film wäre nur schockierend. So ist er aber auch – komisch.
Wir finden nämlich hinreichend Anlass, uns zu distanzieren. Wenn etwa der Anführer der Vergewaltigerbande von der Vergewaltigten den Penis abgeschnitten kriegt, darf er den Sohn verfolgen, der das abgeschnittene Organteil mit der Hand packt, flieht, stolpert, und das Ding auf der Strasse fallen lässt. Dort rollen nun die Autoreifen, erst weit, dann nur knapp daneben und schliesslich voll darüber. So kippt der Film nicht selten ins Komische.
Der Autor bleibt sich selber treu
Kim Ki-duk will vorführen. Nicht einlullen. Er will die Bilder nicht zu Ende denken. Er stellt uns bloss die Endpunkte der Gewalt dar. Was ein Missbrauchsdrama sein will, wird dann allerdings auch zur Schlachtplatte. So klar und zart, wie Kim Ki-duk beginnt, so deutlich wird er im weiteren Verlauf, und so zart endet er: Nimmt die Mutter zu Beginn das Tat-Messer noch aus dem Kopf des Guss-Buddas hervor, um ihren Mann zu entmannen, so stürzt bald der Budda-Kopf selbst. Erst am Schluss sucht ein Passant bei einem Budda seinen Frieden – in einem nächtlichen Schaufenster.
Mit «Frühling, Sommer, Herbst, Winter… und Frühling» schuf Kim Ki-duk 2003 ein meditatives Juwel. Seitdem hat der Koreaner mit seinen Filmen immer wieder Aufsehen erregt. Zuletzt 2012: Er erhielt an den 69. Filmfestspielen von Venedig für «Pieta» einen Goldenen Löwen, den Hauptpreis des Festivals. In diesem Jahr ist er mit einem Werk nur als Gast hier. In seinem Heimatland ist er damit in die Ungnade der Zensurbehörden gefallen: «Moebius» erhielt in Südkorea nur die höchste Altersfreigabe. Damit wird er außerhalb von Filmfestivals in seinem Heimatland nicht zur Aufführung kommen.