Ein prächtiger Frühsommertag, der mich aufs Land hinaus zieht. Für die Stadt Tours bleibt nur eine Kurzvisite.
Eine Stadt wieder in der Nähe, Tours. Tausende von Einwohnerinnen, von Einwohnern, von Leuten, die hinein- und abends hinauspendeln, die in den Fabriken, Werkstätten, Büros, Bussen und Bahnhöfen arbeiten. Die Strassen werden breiter vor diesen Städten, die Schilder zahlreicher, was hinein will, wird aufgeteilt, an den richtigen Ort geleitet, die Landbewohner, die eine Besorgung zu machen haben, haben sich sonntäglich angezogen, etwas ungelenk tragen sie die ungewohnten Kleider. Die Schüler, die mit mir im Bus hineinfahren, geben sich sehr überlegen, cool schnoddrig, «femme lunatique» hat sich eine Schülerin an den abgewetzten Rucksack genäht.
Mit meinem Rucksack passe ich weder da noch dorthin – war eben noch so vertraut mit diesem Azay-le-Rideau und jetzt im Stadtverkehr, wo ich in ein paar Monaten auch wieder täglich eintauchen werde. Rennes, Angers, Tours – viele Dinge ähneln sich, andere Häuser stehen zwar, licht und hoch rund um kahle Plätze, überall Boulangerien mit den langen Baguettes, Bars, Tabacs, Kleider-Boutiquen.
Man kann diese Städte nicht durchwandern. Können täte man schon, hindurchziehen – aber erfahren würde man wenig auf der Durchreise. Man müsste innehalten, zwei, drei Tage, die Bars und Restaurants und Treffpunkte am Abend kennenlernen. In den Städten muss man bleiben, nicht durchwandern. Die Menschen machen die Stadt aus, nicht die Gebäude; die Museen, die Architektur geben nur das Gepräge. Es braucht Zeit, das anzusehen.
Wer’s in die Juekbox von Montrichard schafft …
Und auf der Landschaft? Da passen sich die Leute nicht so schnell den Modeströmungen an, scheint mir. Was in New York leuchtet, blinkt morgen vielleicht in Tours, aber nicht in Benoit-le-Foret, in Azay, in Chinon, Janzé oder sonst wo immer. Das eine oder andere blinkt dort vielleicht auch mal, dann aber länger als in Tours. Die Jukeboxes ändern ihre Platten in London schneller als in Tours und in Tours schneller als in Montrichard und was es aus New York mal in die Jukebox von Montrichard geschafft hat, bleibt dann eine ganze Weile hängen. So etwa.
Und die Leute auf dem Land tragen nicht nur ihre Kleider länger, sondern auch ihre Gewohnheiten und Bräuche. In Tours reicht man sich nicht mehr die Hand, tritt man in eine Beiz ein, in Faverolles-sur-Cher schon noch. Heute, an diesem sommerlichen Nachmittag hatten die Leute allerdings kaum Zeit für die Bar, sie arbeiteten auf den Feldern. In den Weinbergen vor allem, die sich hier endlos erstrecken.
Hab Tours nur kurz besucht, bin ein Stücklein aus der Stadt hinausgefahren nach Bléré, dichter Hochnebel über der Weite des Loire-Tals und bin ostwärts weiter gewandert. Hübsche Dörfer, Francueil, la Chaise – nicht nur die Leute tragen ihre Gewohnheiten länger, auch die Häuser stehen noch, wie sie vor hundert, zweihundert Jahren gebaut wurden. Liebevoll instand gehalten, dazwischen wieder verfallende. Nur wenige Fertig-Neubauten sind entstanden.
Es geht was in den Rebbergen
Der Wein dominiert hier. Rebwege, Routes des Vignes und genossenschaftliche Keller. Die Leute sind am Arbeiten. Überall stehen sie in den Reben, hacken, zwacken ab, spritzen, düngen, setzen neue Stöcke, ziehen schnurgerade Zeilen, um die Pfähle einzuschlagen. Einige Bauern mähen Gras, wo es denn Wiesen hat und die Kornfelder werden langsam gelblich.
Gelblich, rot getupft vom Mohn. Mohn an allen Wegrändern, Mohn in den Weizenfeldern. Die verletzlich und erhaben wirkenden, vom Wind zerzausten Kelche wiegen sich im Wind. Das Rot dieser zerbrechlichen Blumen wirkt, als denke der Schöpfer, sein Werk sei erst vollendet, wenn dieses leuchtende, zerbrechliche Rot noch aufgetupft sei.
Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, eine Blume, manchmal zwei in die Jacke zu stecken. Kräftige Margueriten manchmal, auch Hahnenfuss, blaue Kornblumen – aber schon am liebsten eine Mohnblüte. Wie verderblich sie ist! Am Anfang glatt und leuchtend rot wie ein frischer Bluttropfen. Bald weicht die Glätte, leichte Falten im Rot. Eine ungeschickte Berührung, schon schwebt es ein Blütenblatt zu Boden. Oft steckt unversehens nur noch der gleichmässig gemusterte Kelch im Knopfloch.
Und es erstaunt mich immer wieder diese Farbenpracht. Das Gelb der kleinen Unkräuter, das satte Blau und Violett der Korn- und Glockenblumen oder eben das eindringliche Rot des Mohns – in und am Rande von gelblichen Kornfeldern. Ich denke dann, dass Maler wie Renoir oder Monet ihre Techniken nicht erfunden haben, sie sind nur andächtig durch die Landschaft gegangen und haben ihre Eindrücke gemalt und in die Städte gebracht.
(Montrichard, 13. Juni 2002)