Die Reaktion der EU auf den Brexit sollten laut alt FDP-Präsident Philipp Müller eine Warnung für die Schweiz sein. Seine Nachfolgerin Petra Gössi warnt vor einem Alleingang bei der Umsetzung der Zuwanderungsinitiative.
Die harte Reaktion der EU gegen Grossbritannien, der drohende Verlust des EU-Marktzugangs und Planspiele von Firmen, die Arbeitsplätze auf den Kontinent zu verlagern, sei den «Leuten auf der Insel in die Knochen gefahren», sagte FDP-Ständerat Philipp Müller im Interview mit der «NZZ am Sonntag».
Sollte die Schweiz einmal die bilateralen Verträge mit der EU verlieren, könnte es laut Müller zu einer ähnlichen Reaktion kommen. «Dann gäbe es auch bei uns ein böses Erwachen. Auch bei uns würden dann viele, die denken, die Verträge seien nicht so wichtig, plötzlich sehr nervös.»
Werbung für Inländervorrang
Das Brexit-Votum bestärkt Müller darin, den Marktzugang zur EU nicht aufs Spiel zu setzen. «55 Prozent unserer Exporte gehen in die EU, darum wollen wir einen gesicherten Zugang zum Binnenmarkt.» Für den Marktzugang ist aber eine Umsetzung der SVP-Zuwanderungsinitiative nötig, die das Personenfreizügigkeitsabkommen (FZA) nicht gefährdet.
In der «Ostschweiz am Sonntag» und «Zentralschweiz am Sonntag» warnt seine Nachfolgerin Petra Gössi vor den Folgen einer einseitigen Umsetzung der Initiative: «Dann haben wir eine Situation wie 2004», bevor das Schengener Abkommen ausgehandelt war. «Da hat Deutschland die Grenzkontrollen verschärft, was im Raum Basel gleich zu einem Kollaps führte.» Zudem erinnert sie an den Ausschluss der Schweiz aus dem EU-Forschungsprogramm Horizon 2020.
Falls die Schweiz keinen Marktzugang mehr habe, stelle sich die Frage, wie sie überhaupt noch wachsen könne. «Dann besteht die Gefahr, dass wir schneller in der EU sind, als uns allen lieb ist. Genau das wollen wir verhindern», sagte Gössi im Interview. Deshalb brauche es geregelte Vertragsverhältnisse mit der EU.
Um das zu bewerkstelligen, skizzieren die beiden Freisinnigen das «FDP-Modell» für einen beschränkten Inländervorrang auf dem Arbeitsmarkt: «Dieser soll befristet und beschränkt auf Berufsgruppen und Regionen mit besonders hoher Arbeitslosigkeit gelten», sagte Müller.
EU-Vertreter müssen akzeptieren
Er zeigt sich überzeugt, dass ein solcher Inländervorrang mit der EU abgestimmt werden kann: «Ob das Ganze mit dem FZA kompatibel ist, hängt allein davon ab, ob wir das einseitig beschliessen oder ob dies der Gemischte Ausschuss auf Antrag der Schweiz tut.» Da es sich um eine befristete und beschränkte Massnahme handelt, müssten die EU-Vertreter diese eigentlich akzeptieren.
Den Einwand, die mit der SVP-Initiative geforderten Höchstzahlen und Kontingenten würde damit nicht umgesetzt, lassen weder Müller noch Gössi gelten: Der Inländervorrang werde mit weiteren Massnahmen ergänzt.
«Die Zuwanderung von ausserhalb der EU schränken wir ein, wir wollen den Familiennachzug und die Zuwanderung in die Sozialwerke erschweren», sagte Gössi. Das alles in einem Paket mit dem Inländervorrang ist laut Müller «eine glaubwürdige Umsetzung der Initiative».
Bundesjuristen skeptisch
Zur Frage, wie denn ein Inländervorrang konkret aussehen könnte, erwähnte Müller den seit längerem kursierenden Vorschlag, wonach offene Stellen den regionalen Arbeitsvermittlungsbüro gemeldet werden, bevor sie ausgeschrieben werden. «Davon würden unsere Arbeitslosen direkt profitieren; die Personenfreizügigkeit und damit die Bilateralen wäre nicht grundsätzlich infrage gestellt.»
So klar ist das aber nicht. Die Idee wird auch in der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats diskutiert, welche die Umsetzung derzeit berät. Dort dämpfte Justizministerin Simonetta Sommaruga die Hoffnung, dass ein Inländervorrang mit dem Freizügigkeitsabkommen vereinbar sein könnte.
Gössi sieht jedoch in den Vorschlägen der Schweiz eine Lösung, «die die EU allenfalls auch auf andere Länder anwenden kann». «Wir haben schliesslich für andere Länder Vorarbeit geleistet.»