Für viele Nationalrätinnen und Nationalräte war es erst der zweite Tag im Amt und schon hatten sie über einen Umbau am Fundament des Schweizer Staatswesen zu befinden. In einem knappen Entscheid stimmten sie am Dienstag der Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit zu.
Es handelt sich dabei um einen der ältesten Zankäpfel der Schweizer Politik. Bis heute können die eidgenössischen Räte Bundesgesetze erlassen, die der Verfassung widersprechen. Die Bundesverfassung selber verbietet den Gerichten, dagegen einzuschreiten.
So sah sich das Bundesgericht in der Vergangenheit wiederholt gezwungen, Gesetze anzuwenden, die es selber als verfassungswidrig beurteilte. Oft endeten diese Verfahren in Strassburg, wo der Menschenrechtsgerichtshof eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention feststellte und die Schweizer Behörden zur Ordnung rief.
Misstrauen gegen Gerichte
Das seit der Gründung des Bundesstaats geltende System wurzelt im Grundsatz der Gewaltentrennung: Das höchste Gericht soll sich nicht über den Bundesgesetzgeber stellen können. Dahinter versteckt sich auch ein gewisses Misstrauen gegenüber den Gerichten.
Gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit wird nämlich immer wieder die Befürchtung ins Feld geführt, dass das Bundesgericht dadurch zur politischen Instanz werden könnte. Als warnendes Beispiel gilt hierzulande der deutsche Bundesgerichtshof, der regelmässig Erlasse des Parlaments wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz aufhebt.
Dies soll in der Schweiz auch in Zukunft nicht möglich sein. Auf Vorschlag seiner Rechtskommission stimmte der Nationalrat am Dienstag zwar der Aufhebung von Artikel 190 der Bundesverfassung zu, welcher die Verfassungsgerichtsbarkeit verbietet.
Die Gerichte sollen aber nicht den verfassungswidrigen Erlass selber überprüfen und allenfalls aufheben können, sondern nur den konkreten Anwendungsfall. Nicht anfechtbar wäre damit etwa das Gesetz, das für Frauen und Männer ein unterschiedliches Pensionsalter festlegt. Jedoch könnte ein Mann gerichtlich durchsetzen, im gleichen Alter wie eine Frau pensioniert zu werden.