Mit Patrick Modiano erhält ein zeitgenössischer Klassiker den Literaturnobelpreis 2014. Bei seinen Lesern für Lakonie und die philosophische Tiefe seiner Prosa bekannt, stellt der Franzose in seinem Schaffen Erinnern, Identität und Schuld in den Mittelpunkt.
Der 69-Jährige beherrsche «die Kunst der Erinnerung, mit der er die unfassbarsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt der Besatzungszeit vor Augen geführt hat», begründete die Schwedische Akademie am Donnerstag ihre Wahl.
«Ich versuche bei den Menschen und den Dingen die Schicht des Vergessens zu durchstossen», sagte der medienscheue Franzose in einem seiner wenigen Interviews vor etwas mehr als einem Jahr. Angesiedelt sind Modianos gut 30 Werke oft in dem von Deutschen besetzten Paris während des Zweiten Weltkriegs.
Die Ehrung des im deutschsprachigen Raum eher wenig gelesenen Autors stiess bei Experten auf positives Echo. Der in Paris geborene Autor ist der 111. Träger der wichtigsten Literaturauszeichnung der Welt.
Als Entdecker Modianos für den deutschsprachigen Raum gilt seit den 80er Jahren der selbst oft als Kandidat für den Nobelpreis gehandelte Österreicher Peter Handke. Er übersetzte etwa dessen Romane «Die kleine Bijou» und «Eine Jugend». Bekannte Werke von Modiano sind auch «Der Horizont» oder «La Place de l’Étoile».
Geboren wurde Modiano am 30. Juli 1945 als Sohn eines jüdischen Geschäftsmanns und einer flämischen Schauspielerin in Boulogne-Billancourt, einem Vorort von Paris. Seine Eltern hatten sich während der deutschen Besatzungszeit kennengelernt. Er wuchs zunächst bei den Grosseltern auf und verbrachte dann seine Jugend im Internat.
«Marcel Proust unserer Zeit»
Modiano zeigte sich am Donnerstag in Paris bewegt und verwundert über die Auszeichnung. Die Auszeichnung lasse Kindheitserinnerungen in ihm wach werden, etwa die Verleihung des Literaturnobelpreises an seinen Landsmann Albert Camus 1957, sagte Modiano weiter. Es erscheine ihm «ein bisschen unwirklich», nun zum Kreise dieser Menschen zu gehören, «die ich bewundert habe».
Wenig überrascht von der Wahl zeigte sich der aktuelle deutsche Verleger: Modiano sei schon länger ein heisser Kandidat gewesen, sagte Hanser-Verleger Jo Lendle an der Frankfurter Buchmesse. Er kündigte an, der neue Roman «Gräser der Nacht» erscheine bereits in einigen Tagen auf Deutsch, deutlich früher als geplant.
Lob an Modianos Adresse gab es auch von höchster französischer Stelle: Frankreichs Staatspräsident François Hollande würdigte sein Werk laut einer Mitteilung des Palasts als «subtil»: «Er führt seine Leser bis in die tiefen Wirren der dunklen Besatzungsperiode.»
Modiano sei «ein Marcel Proust unserer Zeit», sagte Peter Englund, Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie. Er schreibe «sehr elegante Bücher», die dennoch «nicht schwierig zu lesen» seien. Der Literat habe ein «grosses Werk» geschaffen.
Erst 13 Frauen ausgezeichnet
Im vergangenen Jahr hatte die kanadische Kurzgeschichten-Autorin Alice Munro als erst 13. Frau den Literaturnobelpreis erhalten. Die letzte deutschsprachige Preisträgerin war Herta Müller (2009), 2008 ging der Preis mit Jean-Marie Gustave Le Clézio letztmals an einen Franzosen.
Die Schweiz konnte sich erst zwei Mal über den Literaturnobelpreis freuen: 1919 erhielt ihn Carl Spitteler, 1946 Hermann Hesse, der 1923 das Berner Bürgerrecht erhalten hatte. Der Literaturnobelpreis wird seit 1901 vergeben. Er ist wie die anderen Nobelpreise mit 8 Millionen Schwedischen Kronen – umgerechnet 1,125 Millionen Franken – dotiert.
Verliehen wird die Auszeichnung traditionell am 10. Dezember, dem Todestag des schwedischen Preisstifters und Industriellen Alfred Nobel (1833-1896).