Wenn in einem amerikanischen Thriller jedes vierte Wort F*** ist, fällt das kaum mehr auf. Sieht man aber in einem Film, wie ein Paar f****, ist die Aufregung hell. Die Bilder im Kampf mit der Sprache in Lars von Triers «Nymph()maniac».
Lars von Triers Film «Nymph()maniac» eilte die Kunde voraus: Er sei pornografisch. Die Medien – gerne Kunden solcher Kunde – bauschten den Film zu einer Skandalorgie auf. Lars von Trier wollte man gerne alles zutrauen, seit er in Cannes bei einem entgleisten Publikumsgespräch «Hitler verstanden haben wollte». Nach zweieinhalb Stunden Premiere des ersten Teiles von «Nymph()maniac» in Kopenhagen stand schon im Dezember fest: Trier bleibt das Lieblingskind medialer Kunstaufregung.
Der Film, der die mediale Aufregung selber liefert
Doch von Trier macht eben nie nur Film. Er zeigt immer, wie er Film macht. Er zeigt immer, was Film mit uns macht. Die Provokation ist nie Selbstzweck, sondern immer Mittel zum Zweck: uns darauf aufmerksam zu machen, wovon wir uns provozieren lassen. Wer nur über von Triers Pornografie nachdenkt, denkt nicht über seinen Bilderdiskurs nach.
Um das zu beweisen, ging von Trier in der Vermarktung des Films noch einen Schritt weiter: Er zeigte auch hier, wie er zeigt: In Dänemark zierten die nackten Körper der Schauspieler die Plakatwände. Aber nicht nur die. Von Trier bat auch die Filmkritiker des Landes, unverhüllt zu posieren. Es ist ein schmunzelnder Appell aus jenem Land, das traditionell eine liberale Haltung zu Sexualität kennt. Es ist aber auch ein Statement zur Unverkrampftheit der Presse.
Die Gilde der dänischen Filmkritiker zeigt Haut (Bild: Picasa)
«Ansichten verteidigen, die nicht meine sind»
So verweist Von Trier auf eine seiner dramaturgischen Techniken. Er bietet damit seit Jahren der internationalen Interpretationsindustrie reichlich Rohstoff für die Diskussion seiner Person: Auch mit «Nymph()maniac» gibt er der Meinungsbörse Anlass zu spekulieren. Dabei sind bildungsbürgerlich Vergrämte erst einmal überrascht: Sein Drehbuch ist entzückend geistreich, seine Schauspieler plaudern angenehm intim, sein Film ist über lange Strecken eher ein Erzählstück, und was die Pornografie angelangt: Sie ist von professionellen Pornodarstellerinnen verantwortet. Immer wieder sehen wir Körperteile – in pornografischer Zuckung – zwischen die Dialogszenen geschnitten. Auch wenn von Trier nicht immer zeigt, dass er zeigt: Hier zeigt er es sehr deutlich, wo er sonst eher altbacken bleibt.
Bilder versus Sprache
Wenn in einem amerikanischen Thriller jedes 4.Wort FUCK ist, fällt das kaum mehr auf. Sieht man aber in einem Film, wie ein Paar FICKT, ist die Aufregung hell. Es sind bei Von Trier aber andere Szenen, die die narrative Kunst ausmachen: Ganz am Anfang fällt Regen, über Rinnen, nieselt heftig, über Ziegel rauschend, fällt durch Mauerritzen, rinnt in Kopfsteine, stürzt immer tiefer, hinab, minutenlang, bis er ganz unten sich sammelt, wo das Wasser einst wieder anfangen wird zu steigen. Im Dreck. In der blutigen Hand einer jungen Frau. Damit ist angedeutet, wo wir mit der jungen Frau in die Geschichte einsteigen, tief unten in den Kulissenkellern der Seele, bevor die Geplagte mit ihren Eskapaden gegen sich selber ankämpft. Damit wird aber auch angedeutet, was den Film mit Proust so verwandt macht: Es ist die verlorene Sprache, für verlorene Erinnerungen, die beide antreibt.
Schön beginnt der Film, wie der «Römische Brunnen» von Conrad Ferdinand Meyer – und dennoch beklagte Lars von Trier sich über «die Armut der Bilder, die an den Reichtum der Sprache nie heranreichen». Über weite Strecken will der Film auch diese Konkurrenz mit der Sprache gerne sichtbar machen: Trier (das «Von» hat er sich einst in einem Anflug pubertierender Hybris selber angedichtet) lässt aber Bilder das eben Gesagte nicht nur illustrieren. Er stellt auch immer wieder die gesprochene Sprache gegen das Bild.
Was für ein grandioses Wort ist «fliegen». Was für eine lächerliche Illustration ist dagegen ein eingeblendetes Flugzeug! Trier erweist sich als fast so vernarrt in die Sprache wie Proust, nutzt sie aber eben auch mindestens so provokativ wie Dali!
Der Pate: Marcel Proust
«Nymph()maniac» kann aber auch ironisch als eine Hommage an Proust gelesen werden, der seine Erinnerungen «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» mit dem Satz beginnt: «Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.» Spitz könnte man formulieren: Auch von Trier lässt seine Hauptfigur reichlich «früh schlafen gehen» – mit Männern.
Doch die Verbindung zur literarischen Erinnerungsarbeit Prousts gibt mehr her. Filmisch begibt sich «Nymph()maniac» auf die «Suche nach der verlorenen – Körper – Sprache – Zeit». Wie der Duft eines Teegebäcks bei Proust flüchtig ist, so ist es auch die Erfüllung des Körpers durch Gier: Von Trier wirft einen Blick in eine enterotisierte Welt, der vor lauter Gier nach Sex die Liebe und ihre Erotik abhanden gekommen ist. Um mit Rimbaud zu sprechen, muss «die Liebe neu erfunden werden».
Die Sprache der Körper war nie die Sprache der Liebe
Joe ist – mehr als eine Nymphomanin – ein Wesen unserer Zeit. Ihre Phantasie ist übersexualisiert. Ihre Erinnerung ist es auch: Nur an Gefühle erinnert Joe sich nicht. Doch Liebe ist eben, wenn auch mehr, vor allem ein Gefühl. Darin widerspricht von Trier dem sprachlichen Mäandern von Proust: Die Erinnerung der Sinne ist verloren gegangen. Joe erinnert nicht mehr ihre Sinnlichkeit. Sie erinnert das körperliche Verlangen. Von den Männern kennt sie nicht mehr den Duft. Joe versucht schon als junge Frau mit übermässiger sexueller Betätigung die emotionale Leere zu ersticken. Sie erinnert sich nur noch an die Farbe der Zuckertabletten, die sie als Trophäe gewann, weil sie in einem Zug mehr Männer verführte als ihre Freundin.
Als Erzählstück, mit Originalzitaten aus Proust versetzt, ist «Nymph()maniac 1» eher eine langfädige Rekonstruktion der Erinnerungen von Joe. Charlotte Gainsbourg zeigt dabei als knabenhafte Nymphe kaum Haut und ist doch in jeder Sekunde erotischer als alle Körperdoubles. Dabei mäandert von Trier in geistreichen Dialogen um das Phänomen der Liebe – vor allem aber um eine Frage: Was bleibt, wenn der Körper die Einheit von Emotion und Eros nicht mehr bilden kann, wie im Fieberzustand der Liebe? Pein?
Die Antwort darf in dem fünfstündigen Film (Teil 1: 145 Minuten), der jeden Rahmen sprengt, nun gesucht werden. Dem ersten Teil wird im April der zweite folgen. Aus Dänemark eilt den beiden Filmen eine neue Kunde voraus, die die ältere Kundschaft verblüffen wird. Der Film fand dort ein vorwiegend junges Publikum. Das überrascht, weil der Film eher altbacken wirkt denn wie ein reisserisches Jungfrauen-Porno. Lars von Trier auf jeden Fall liefert wieder einen Wachstumsimpuls für die Interpretations-Industrie.
Der Film läuft zur Zeit im Kult-Kino Atelier.