Freiwilligenarbeit ist der grosse Widerspruch in der US-Gesellschaft. Zum einen geht es darum, Geld zu scheffeln und Wohlstand zu erreichen. Zum anderen, mit unbezahlter Arbeit ein besserer – oder schönerer – Mensch zu werden. Auch im Wahlkampf.
Die amerikanische Gesellschaft weist einen eigenartigen Widerspruch auf: Auf der einen Seite steht der egoistische, geldgesteuerte Amerikaner. Er arbeitet hart, um möglichst viel zu verdienen. Er weiss, dass er sich mit Geld fast alles kaufen kann. Für 20 Dollar extra kann er sich z. B. das Anstehen im San Diego Safaripark erkaufen und sich ganz vorne in die Schlange stellen, also fast so eine Art Speedy Boarding für Wohlhabende. Dieser darwinistische Amerikaner denkt vor allem an sich und seine direkten Nachkommen. Er verschleudert Energieressourcen, ohne mit der Wimper zu zucken – nach uns die Sintflut.
Auf der andern Seite steht das Volunteering, also die Freiwilligenarbeit. Freiwilligenarbeit ist altruistisches Engagement für einen guten Zweck, typischerweise ohne Lohn. Dahinter steckt eine tiefsitzende amerikanische Sitte: Gutes Tun macht dich «beautiful», also wunderschön. Und mit deinem Engagement kannst du etwas bewegen. Volunteers verdienen zwar kein Geld, aber sie geniessen viel Respekt. Volunteers, das sind gute Menschen schlechthin.
Freiwillige an jeder Ecke
Damit wirbt auch die Webpage www.volunteermatch.org. Hier kann ich meine Postleitzahl eingeben und ein Stichwort zu meinem gewünschten Tätigungsfeld, und schon erscheinen -zig Vorschläge von Organisationen, für die ich Freiwilligenarbeit leisten könnte.
Es ist nicht so, dass die Amerikaner mehr Freizeit hätten als die Schweizer. Im Gegenteil, gemäss der International Labour Organization weisen Amerikaner im internationalen Vergleich einen sehr hohen Jahresstundensaldo auf. Sie können noch so ausgelastet sein mit Beruf, Familie und Sport – ein paar Stunden Volunteering pro Monat quetschen viele dennoch in ihren prallen Zeitplan. Volunteers treffe ich fast überall: Sie stehen an der Tür zum Kulturzentrum und weisen mir im Theater den Platz zu. Sie halten sich an den einschlägigen Aussichtspunkten in den National Parks auf. Dort zeigen sie auf Sehenswertes und kennen die Fauna und Flora wie ihre eigene Jackentasche. Von den Heerscharen an Volunteers, die für Amnesty International, Planet Parenthood, Greenpeace etc. auf der Strasse Mitglieder akquirieren einmal ganz abgesehen. Auf meinem Gang zum Supermarkt, der 10 Häuserblocks lang ist, begegne ich täglich bestimmt drei solcher hoch motivierter Freiwilligen.
Freiwillige Pflicht
Freiwilligenarbeit geht manchmal auch in Pflichtübung über: In den öffentlichen Schulen hier in San Francisco ist es gang und gäbe, dass Eltern ein Kontingent an Volunteer-Stunden absolvieren müssen. Und nicht wenige: «40 Stunden pro Schuljahr!», klönt eine Freundin von mir. Sie kann aussuchen zwischen «Feste mitorganisieren», Klassenausflüge begleiten, der Lehrerin beim Unterrichten assistieren oder einfache Büroarbeiten im Sekretariat erledigen. Mal ehrlich, können Sie sich vorstellen, im Sekretariat der Primarschule ihrer Tochter Matheübungsblätter zu kopieren? Man erahnt nur, wie sehr diese Institutionen angewiesen sind auf die mehrstelligen Stunden unbezahlter Freiwilligenarbeit.
Auch die politischen Parteien sind nebst den Milliarden Dollar, die sie für Promovideos, Plakate, Kampagnen und Events ausgeben in höchstem Masse auf engagierte Freiwillige angewiesen. «Wenn ich schon mal hier bin», dachte ich, «melde ich mich doch als Freiwillige für die Wahlkampagne für die Wiederwahl von Obama an.» Es lohnt sich schon der Emails wegen, die fast täglich in meine Inbox flattern: Da schreibt mir Vizepräsident Joe Biden: «You know, this has never been about Barack and me. We’re just two guys. It’s folks like you out there who will decide this election. And what you’re capable of is incredible» (Weisst du, es geht hier nicht um Barack und mich. Wir sind nur zwei Typen. Es sind Leute wie Du, die diese Wahl entscheiden werden. Und es ist unglaublich, zu was Du fähig bist.) Oder Barack fordert mich auf, Michelles Geburtstagskarte zu unterschreiben und flüstert mir dabei noch ein paar «private» Gedanken ins Ohr: «Dieses Jahr feiern Michelle und ich unser 20jähriges Jubiläum. Es war die beste Entscheidung, die ich je gemacht habe. (…) Ich bin dankbar für alles, was Michelle für mich getan hat, weil sie an mich glaubt und auch an Dich und daran, was wir hier alle zusammen aufbauen. Jeden Tag liebe und schätze ich sie mehr (…).»
Abtelefonieren in der Pizzeria
Aber ich soll ja nicht nur passiv rumsitzen für Obama. Taten statt Worte! Vor ein paar Wochen ging es darum, neue Freiwillige im Nachbarstaat Nevada zu rekrutieren, die sich für Obamas Wiederwahl engagieren. Dafür wurden an einem Wochenende in Kalifornien sogenannte Telefonbanken aufgestellt. Auch in San Francisco. Man traf sich in einem Pizzalokal. Nach einem kurzen Briefing wurden an die mehreren Duzend Freiwilligen Listen mit Telefonnummern von Obamasympathisanten verteilt und der Telefonspass begann. Immer wieder erhalte ich per Email auch Argumentarien geliefert.
Vor ein paar Tagen kam die Aufforderung, mich dem sogenannten Wahrheitsteam anzuschliessen. Es folgte eine Aufstellung von fünf politischen Positionen von Obamas republikanischem Herausforderer Mitt Romney, die ich erwidern soll, falls jemand in meinem Bekanntenkreis behauptet, dass Romneys Ansichten moderat seien. Von seinen radikal frauenfeindlichen Positionen, über Romneys politische Schwankungen in Sachen internationale Politik und nationale Sicherheit, hin zu der Widerrufung der Gesundheitsreform und seinen Plädoyers für ein Steuersystem, das die Reichen milder besteuert. Ja, stellen Sie mir Ihre nasty questions! Volunteering macht mich nicht nur schöner, es bringt mich auch wieder ein Stück näher an die amerikanische Gesellschaft heran.